27/08/2021

10 Fragen mit… Mustelide

Mit unserer Interview-Serie »10 Fragen mit…« möchten wir euch eine Reihe von Acts aus dem diesjährigen Programm von Pop-Kultur-Festivals vorstellen, die einen Platz in euren Playlists und Herzen verdient haben. Diesmal mit Natallia Kunitskaya, die unter dem Namen Mustelide Samples und Synthesizer zu tanzbarem Avant-Pop verwebt. Mustelide erzählt von ihrem Weg als Musikerin, der sie von Belarus nach Berlin führte. Heute, sagt Natallia, lebe sie in Berlinsk. Weiterhin geht es darum, was man mit kaputten Instrumenten alles anstellen kann sowie um die politische Krise in Belarus.

 

Liebe Natallia, was ist Berlinsk? 

Berlinsk ist ein multidimensionaler Ort, eine Kombination aus den Städten Berlin und Minsk. Berlinsk liegt ziemlich genau in der Mitte zwischen dem Osten und dem Westen. Und mein Herz ist an diesem Ort. Denn ich liebe die Stadt, in der ich geboren wurde genauso wie die, in der ich jetzt lebe.

Als du noch in Minsk lebtest hast du in vielen Bands und Projekten mitgewirkt. Kannst du davon erzählen?

Good rock ’n‘ roll times! Mit 15 Jahren begann ich, in belarussischen Bands zu spielen. Alle Arten von Musik: Metal, Rock, Indie, Prog-Rock, Kabarett-Musik. Zum Beispiel bei ULIS, eine der legendärsten Rockbands des Landes mit belarussischen Texten. Die haben mich engagiert als ich 17 war, ich habe Synthesizer gespielt. Mit ULIS habe ich meine ersten Touren und erste große Festivals bestritten, aber nie in Belarus – dort war die Band verboten. Dann war ich bei Silver Wedding, auch eine populäre Band. Die Mitglieder sind echte Persönlichkeiten und Weirdos. Die Frontfrau, Svetlana Ben, ist eine der talentiertesten Dichterinnen und Künstlerinnen des Landes. Wir spielten auf selbstgebauten Instrumente, wir spielten Kinderlieder, wir traten sogar mit einem Kabarettprogramm auf, das auf Texten von Bertolt Brecht basierte. Aber insgeheim war ich immer ein Fan von Popmusik, das war mir damals aber selbst gar nicht bewusst. Erst jetzt verstehe ich, wie sehr mich Pop-Hits der 80er- und 90erJahre geprägt haben.

Wie kam es zur Entscheidung, lieber in Eigenregie zu arbeiten? 

Ich glaube, das Komponieren und Produzieren fand ich schon immer interessanter, als nur Instrumente zu spielen oder zu singen. Das Schreiben von Songs hat mich bereits als Kind fasziniert, aber ich war lange zu schüchtern, um mich dieser Herausforderung zu stellen und die Rolle der Produzentin zu übernehmen. Ich hatte diese Bilder im Kopf, in denen ich mich als Teil einer Band sah, während ich Produzenten für autoritäre Typen hielt, die in teuren Studios sitzen. Aber dann kam die Zeit der DIY-Produzent:innen, und auch ich bekam Zugang zu allen Produktionswerkzeugen. Maschinen ersetzen Musiker:innen und Ableton professionelle Studios. Damals fühlte es sich für mich dann endlich richtig an, in diese magische Welt von Produktion und Sounddesign einzutauchen.

Für deine letzte EP »Ginseng Woman« hast du Samples kaputter Orchesterinstrumente als Klangquellen genutzt. Das klingt ziemlich konzeptuell, aber das Ergebnis bleibt sehr musikalisch. In einem Song wie »Zver« übernehmen diese Instrumente mal Teile einer Bassline, mal setzt du sie ein wie Gitarren, dann wieder dröhnen sie ein bisschen wie Fremdkörper in den eigentlich sehr poppigem Song. Wie kam es dazu, was war die Idee? 

Ich hatte immer eine große Leidenschaft für analoge Synthesizer und wollte jeden Sound von Grund auf neu modulieren. In Belarus war es ziemlich schwer, an diese Geräte zu kommen, also war jeder Synthesizer ein echter Schatz. In erster Linie wollte ich etwas Einzigartiges kreieren, das aber zugleich mit all der Popmusik korrespondierte, die ich so liebte. Aber dann begann ich Samples zu sammeln und diese als Klangbasis zu verwenden. Ich erkannte, wie facettenreich und exklusiv Samples sein können, weil sie einen einzigartigen Moment und seine Energie einfangen. Also begann ich, meine Tracks mit Samples eigener Field Recordings zu machen. Ich wurde dabei richtig enthusiastisch. Zum Beispiel habe ich die Aufnahmen des Schreis einer Eule verwendet, um daraus einen Schlagzeug-Part in meinem Song »Opushka« zu formen. Und für »Nanoantenna« habe ich die Klangkulisse einer Flamenco-Tanzveranstaltung in Sevilla aufgenommen. Ziemlich intensiv. 

Und da wurden dann die Gitarren zerschlagen?

Nee. Das kam später. Ich erfuhr von einem Projekt der Found Sound Nation, einer Non-Profit-Organisation, die ein Residenzprogramm für Künstler:innen anboten. Bei dem Projekt ging es darum, kaputt gegangene Orchesterinstrumente aus Musikschulen in Florida ein zweites Leben zu geben. 800 Instrumente wurden gesammelt und professionelle Musiker:innen haben die Klänge dann im Studio aufgenommen. Die Aufnahmen wurden wiederum an Künstler:innen aus aller Welt gegeben, die daraus eigene Songs machen sollten. Die Bedingung war, dass keine anderen Klänge verwendet werden durften. Ausgenommen Gesang. Diese Challenge reizte mich so sehr, dass ich nicht nur einen Song gemacht habe, sondern ein ganzes Album. Im Grunde schuf ich meine eigenen Synthesizer und Drumcomputer. Und die klangen einzigartig: voller Schmerz und Hoffnung, Weisheit und Wildheit. Weil die Seele dieser kaputten Instrumente in den neuen Klängen konserviert zu sein schien.

Abseits von Sampling, gibt es Artists und (pop-)kulturelle Phänomene, die dich aktuell besonders interessieren?

Sega Bodega, Christine and the Queens und Karma She sind Artists, die mich zuletzt begeistert haben. Das Online-Festival Appleville von PC Music hat mir total gut gefallen. Ich mag das Chaos sehr, das heutzutage in der Popmusik herrscht. Ich habe das Gefühl, dass es in der Popkultur immer viel um Regeln und Schubladen ging. Heute gibt es diese Regeln und Definitionen nicht mehr. Es geht jetzt darum, die Seelen der Menschen zu berühren. Und die Mittel dazu sind so vielfältig, Popmusik wird immer freier. Es ist egal ob 100 Leuten etwas feiern oder eine Millionen. Es geht nicht mehr darum, wieviele Menschen etwas erreicht, sondern was es auslöst und wie stark. Die Zeiten, in denen manche sich dafür schämten Popmusik zu lieben, sind vorbei. Heute ist alles Pop, so gut wie alles. Große Stars können völlig verrückte und avantgardistische Dinge anstellen und mit Indie-Acts zusammenarbeiten. Umgekehrt können Underground-Künstler:innen das Pop-Game spielen. Du kannst dich heute in deinem Schlafzimmer in Britney verwandeln, und das ist es, was ich wirklich liebe. Es ist wie ein Alice-im-Wunderland-Szenario.   

Wie würdest du die Pop-Szene(n) in Minsk charakterisieren? Welche Strömungen sind dort wichtig und worin unterscheiden sie sich von beispielsweise deinem neuen Umfeld in Berlin?

Wenn wir von Independent-Künstler:innen sprechen: Die arbeiten sehr intuitiv und nach Gefühl. Es gibt keine Institutionen, Communities oder große Clubs, die Musiker:innen formen. Daher können wirklich interessante und sehr ehrliche Sachen entstehen. Jedenfalls wenn die Künstler:innen sich treu bleiben und nicht versuchen, westliche Popmusik zu imitieren, was natürlich auch häufig vorkommt. Die unabhängige Popszene in Belarus trägt Züge einer schüchternen und traumatisierten Person. Jemand, die:der deprimiert und verträumt ist, und in eine eigene Realität flüchtet. Das klingt ein bisschen tragisch, hat aber auch Charme. In Berlin scheint Pop dagegen freier und frecher zu sein, aber auch hier hat Pop seinen Ursprung oft in einem „dunklen Ort“, darin ähneln sich Künstler:innen aus Minsk und Berlin.




 

Belarus ist ja seit einiger Zeit in den Fokus der politischen Berichterstattung gerückt. Ein Autokrat, gefälschte Wahlen, Demonstrant:innen, die weggesperrt und gefoltert wurden. Wenn du mit Freund:innen aus Minsk sprichst, was erzählen sie über die Situation und die Stimmung? Welche Auswirkung hat die Lage für Künstler:innen vor Ort? 

Alle Gespräche laufen auf genau die Themen hinaus, die du gerade erwähnt hast, aber es gibt auch das Bedürfnis zu reflektieren, die Verwirrung und den Schmerz zu verarbeiten. Es ist wirklich herzzerreißend zu sehen, dass dieser Schmerz nicht aufhört, dass die Menschen in Belarus in konstanter Gefahr leben. Sie können nicht davor weglaufen, sie können sich auch nicht ablenken. Es gibt dieses permanentes Hintergrundrauschen, und das kostet viel Energie. Es ist frustrierend und es macht Menschen unfähig, kreativ zu sein. Ich bin froh, dass die Künstler:innen dort immer noch genug von dem Feuer in sich tragen, aus dem neue Kunst und Projekte entstehen, aber diese Prozesse sind viel schwieriger geworden.

Engagierst du dich in der Protestbewegung der belarussischen Diaspora? Und was kann man tun, um den Menschen in Belarus zur Seite zu stehen? 

2020 habe ich an einigen Demonstrationen in Berlin teilgenommen, aber mit der Zeit habe ich meinen eigenen Weg gefunden, die besorgniserregenden Verhältnisse in Belarus zu thematisieren. Ich mache persönliche künstlerische Aussagen, meist in Form von Musik oder Performances – das fühlt sich für mich am natürlichsten und aufrichtigsten an. Ich schätze wirklich jede Art von Dialog über die Situation in Belarus. Sie darf nicht vergessen werden. Was wir hier tun können, ist einfach weiter darüber zu sprechen. Wir dürfen die Lage im Land niemals als Normalzustand akzeptieren. Wir sollten uns auf die Liebe untereinander konzentrieren und denen zu helfen versuchen, die Hilfe brauchen. Wie genau man das macht, ist eine individuelle Entscheidung.

Um mit etwas Erfreulicherem zu enden: Es sieht ja gerade so aus, als ginge es bald wieder los mit Live-Konzerten, kulturellem Leben, eventuell sogar wieder mit Clubkultur. Was sind deine Gedanken, wenn du auf die letzten anderthalb Jahre Pandemie zurückblickst?

Ich betrachte es als eine Entwicklung und Bewegung. Die Pandemie ist nur die jüngste Herausforderung, die die Gesellschaft zu bewältigen hat, aber es gab derlei schon viele zuvor und weitere werden folgen. Jede Generation hat mit Problemen zu kämpfen. Wir haben in dieser Zeit viel gelernt: Solidarität, Vergebung und Geduld. Mir tun diejenigen wirklich leid, die die Pandemie hart getroffen hat. Den meisten meiner Freund:innen und Kolleg:innen ging es aber alles in allem gut. Viele konnten diese Zeit nutzen, um sich auf ihre Kunst zu konzentrieren, oder etwas Neues zu lernen. Viele konnten endlich mal ausspannen und fanden Zeit, um ohne FOMO zu Hause coole Filme zu gucken. Jetzt, wo sich alles wieder öffnet, habe ich das Gefühl, dass die Menschen all die kleinen Dinge und Momente nicht mehr als selbstverständlich ansehen. Es ist wieder möglich, abzuhängen oder zu tanzen, es ist alles ein bisschen anders, aber es fühlt sich frischer und lebendiger an als je zuvor.

Mustelide spielt am 27.08 um 18 Uhr in Pavillon. Karten gibts hier!

10 Fragen mit Mustelide

Mit unserer Interview-Serie »10 Fragen mit…« möchten wir euch eine Reihe von Acts aus dem diesjährigen Programm von Pop-Kultur-Festivals vorstellen, die einen Platz in euren Playlists und Herzen verdient haben. Diesmal mit Natallia Kunitskaya, die unter dem Namen Mustelide Samples und Synthesizer zu tanzbarem Avant-Pop verwebt. Mustelide erzählt von ihrem Weg als Musikerin, der sie von Belarus nach Berlin führte. Heute, sagt Natallia, lebe sie in Berlinsk. Weiterhin geht es darum, was man mit kaputten Instrumenten alles anstellen kann sowie um die politische Krise in Belarus.

 

Liebe Natallia, was ist Berlinsk? 

Berlinsk ist ein multidimensionaler Ort, eine Kombination aus den Städten Berlin und Minsk. Berlinsk liegt ziemlich genau in der Mitte zwischen dem Osten und dem Westen. Und mein Herz ist an diesem Ort. Denn ich liebe die Stadt, in der ich geboren wurde genauso wie die, in der ich jetzt lebe.

Als du noch in Minsk lebtest hast du in vielen Bands und Projekten mitgewirkt. Kannst du davon erzählen?

Good rock ’n‘ roll times! Mit 15 Jahren begann ich, in belarussischen Bands zu spielen. Alle Arten von Musik: Metal, Rock, Indie, Prog-Rock, Kabarett-Musik. Zum Beispiel bei ULIS, eine der legendärsten Rockbands des Landes mit belarussischen Texten. Die haben mich engagiert als ich 17 war, ich habe Synthesizer gespielt. Mit ULIS habe ich meine ersten Touren und erste große Festivals bestritten, aber nie in Belarus – dort war die Band verboten. Dann war ich bei Silver Wedding, auch eine populäre Band. Die Mitglieder sind echte Persönlichkeiten und Weirdos. Die Frontfrau, Svetlana Ben, ist eine der talentiertesten Dichterinnen und Künstlerinnen des Landes. Wir spielten auf selbstgebauten Instrumente, wir spielten Kinderlieder, wir traten sogar mit einem Kabarettprogramm auf, das auf Texten von Bertolt Brecht basierte. Aber insgeheim war ich immer ein Fan von Popmusik, das war mir damals aber selbst gar nicht bewusst. Erst jetzt verstehe ich, wie sehr mich Pop-Hits der 80er- und 90erJahre geprägt haben.

Wie kam es zur Entscheidung, lieber in Eigenregie zu arbeiten? 

Ich glaube, das Komponieren und Produzieren fand ich schon immer interessanter, als nur Instrumente zu spielen oder zu singen. Das Schreiben von Songs hat mich bereits als Kind fasziniert, aber ich war lange zu schüchtern, um mich dieser Herausforderung zu stellen und die Rolle der Produzentin zu übernehmen. Ich hatte diese Bilder im Kopf, in denen ich mich als Teil einer Band sah, während ich Produzenten für autoritäre Typen hielt, die in teuren Studios sitzen. Aber dann kam die Zeit der DIY-Produzent:innen, und auch ich bekam Zugang zu allen Produktionswerkzeugen. Maschinen ersetzen Musiker:innen und Ableton professionelle Studios. Damals fühlte es sich für mich dann endlich richtig an, in diese magische Welt von Produktion und Sounddesign einzutauchen.

Für deine letzte EP »Ginseng Woman« hast du Samples kaputter Orchesterinstrumente als Klangquellen genutzt. Das klingt ziemlich konzeptuell, aber das Ergebnis bleibt sehr musikalisch. In einem Song wie »Zver« übernehmen diese Instrumente mal Teile einer Bassline, mal setzt du sie ein wie Gitarren, dann wieder dröhnen sie ein bisschen wie Fremdkörper in den eigentlich sehr poppigem Song. Wie kam es dazu, was war die Idee? 

Ich hatte immer eine große Leidenschaft für analoge Synthesizer und wollte jeden Sound von Grund auf neu modulieren. In Belarus war es ziemlich schwer, an diese Geräte zu kommen, also war jeder Synthesizer ein echter Schatz. In erster Linie wollte ich etwas Einzigartiges kreieren, das aber zugleich mit all der Popmusik korrespondierte, die ich so liebte. Aber dann begann ich Samples zu sammeln und diese als Klangbasis zu verwenden. Ich erkannte, wie facettenreich und exklusiv Samples sein können, weil sie einen einzigartigen Moment und seine Energie einfangen. Also begann ich, meine Tracks mit Samples eigener Field Recordings zu machen. Ich wurde dabei richtig enthusiastisch. Zum Beispiel habe ich die Aufnahmen des Schreis einer Eule verwendet, um daraus einen Schlagzeug-Part in meinem Song »Opushka« zu formen. Und für »Nanoantenna« habe ich die Klangkulisse einer Flamenco-Tanzveranstaltung in Sevilla aufgenommen. Ziemlich intensiv. 

Und da wurden dann die Gitarren zerschlagen?

Nee. Das kam später. Ich erfuhr von einem Projekt der Found Sound Nation, einer Non-Profit-Organisation, die ein Residenzprogramm für Künstler:innen anboten. Bei dem Projekt ging es darum, kaputt gegangene Orchesterinstrumente aus Musikschulen in Florida ein zweites Leben zu geben. 800 Instrumente wurden gesammelt und professionelle Musiker:innen haben die Klänge dann im Studio aufgenommen. Die Aufnahmen wurden wiederum an Künstler:innen aus aller Welt gegeben, die daraus eigene Songs machen sollten. Die Bedingung war, dass keine anderen Klänge verwendet werden durften. Ausgenommen Gesang. Diese Challenge reizte mich so sehr, dass ich nicht nur einen Song gemacht habe, sondern ein ganzes Album. Im Grunde schuf ich meine eigenen Synthesizer und Drumcomputer. Und die klangen einzigartig: voller Schmerz und Hoffnung, Weisheit und Wildheit. Weil die Seele dieser kaputten Instrumente in den neuen Klängen konserviert zu sein schien.

Abseits von Sampling, gibt es Artists und (pop-)kulturelle Phänomene, die dich aktuell besonders interessieren?

Sega Bodega, Christine and the Queens und Karma She sind Artists, die mich zuletzt begeistert haben. Das Online-Festival Appleville von PC Music hat mir total gut gefallen. Ich mag das Chaos sehr, das heutzutage in der Popmusik herrscht. Ich habe das Gefühl, dass es in der Popkultur immer viel um Regeln und Schubladen ging. Heute gibt es diese Regeln und Definitionen nicht mehr. Es geht jetzt darum, die Seelen der Menschen zu berühren. Und die Mittel dazu sind so vielfältig, Popmusik wird immer freier. Es ist egal ob 100 Leuten etwas feiern oder eine Millionen. Es geht nicht mehr darum, wieviele Menschen etwas erreicht, sondern was es auslöst und wie stark. Die Zeiten, in denen manche sich dafür schämten Popmusik zu lieben, sind vorbei. Heute ist alles Pop, so gut wie alles. Große Stars können völlig verrückte und avantgardistische Dinge anstellen und mit Indie-Acts zusammenarbeiten. Umgekehrt können Underground-Künstler:innen das Pop-Game spielen. Du kannst dich heute in deinem Schlafzimmer in Britney verwandeln, und das ist es, was ich wirklich liebe. Es ist wie ein Alice-im-Wunderland-Szenario.   

Wie würdest du die Pop-Szene(n) in Minsk charakterisieren? Welche Strömungen sind dort wichtig und worin unterscheiden sie sich von beispielsweise deinem neuen Umfeld in Berlin?

Wenn wir von Independent-Künstler:innen sprechen: Die arbeiten sehr intuitiv und nach Gefühl. Es gibt keine Institutionen, Communities oder große Clubs, die Musiker:innen formen. Daher können wirklich interessante und sehr ehrliche Sachen entstehen. Jedenfalls wenn die Künstler:innen sich treu bleiben und nicht versuchen, westliche Popmusik zu imitieren, was natürlich auch häufig vorkommt. Die unabhängige Popszene in Belarus trägt Züge einer schüchternen und traumatisierten Person. Jemand, die:der deprimiert und verträumt ist, und in eine eigene Realität flüchtet. Das klingt ein bisschen tragisch, hat aber auch Charme. In Berlin scheint Pop dagegen freier und frecher zu sein, aber auch hier hat Pop seinen Ursprung oft in einem „dunklen Ort“, darin ähneln sich Künstler:innen aus Minsk und Berlin.




 

Belarus ist ja seit einiger Zeit in den Fokus der politischen Berichterstattung gerückt. Ein Autokrat, gefälschte Wahlen, Demonstrant:innen, die weggesperrt und gefoltert wurden. Wenn du mit Freund:innen aus Minsk sprichst, was erzählen sie über die Situation und die Stimmung? Welche Auswirkung hat die Lage für Künstler:innen vor Ort? 

Alle Gespräche laufen auf genau die Themen hinaus, die du gerade erwähnt hast, aber es gibt auch das Bedürfnis zu reflektieren, die Verwirrung und den Schmerz zu verarbeiten. Es ist wirklich herzzerreißend zu sehen, dass dieser Schmerz nicht aufhört, dass die Menschen in Belarus in konstanter Gefahr leben. Sie können nicht davor weglaufen, sie können sich auch nicht ablenken. Es gibt dieses permanentes Hintergrundrauschen, und das kostet viel Energie. Es ist frustrierend und es macht Menschen unfähig, kreativ zu sein. Ich bin froh, dass die Künstler:innen dort immer noch genug von dem Feuer in sich tragen, aus dem neue Kunst und Projekte entstehen, aber diese Prozesse sind viel schwieriger geworden.

Engagierst du dich in der Protestbewegung der belarussischen Diaspora? Und was kann man tun, um den Menschen in Belarus zur Seite zu stehen? 

2020 habe ich an einigen Demonstrationen in Berlin teilgenommen, aber mit der Zeit habe ich meinen eigenen Weg gefunden, die besorgniserregenden Verhältnisse in Belarus zu thematisieren. Ich mache persönliche künstlerische Aussagen, meist in Form von Musik oder Performances – das fühlt sich für mich am natürlichsten und aufrichtigsten an. Ich schätze wirklich jede Art von Dialog über die Situation in Belarus. Sie darf nicht vergessen werden. Was wir hier tun können, ist einfach weiter darüber zu sprechen. Wir dürfen die Lage im Land niemals als Normalzustand akzeptieren. Wir sollten uns auf die Liebe untereinander konzentrieren und denen zu helfen versuchen, die Hilfe brauchen. Wie genau man das macht, ist eine individuelle Entscheidung.

Um mit etwas Erfreulicherem zu enden: Es sieht ja gerade so aus, als ginge es bald wieder los mit Live-Konzerten, kulturellem Leben, eventuell sogar wieder mit Clubkultur. Was sind deine Gedanken, wenn du auf die letzten anderthalb Jahre Pandemie zurückblickst?

Ich betrachte es als eine Entwicklung und Bewegung. Die Pandemie ist nur die jüngste Herausforderung, die die Gesellschaft zu bewältigen hat, aber es gab derlei schon viele zuvor und weitere werden folgen. Jede Generation hat mit Problemen zu kämpfen. Wir haben in dieser Zeit viel gelernt: Solidarität, Vergebung und Geduld. Mir tun diejenigen wirklich leid, die die Pandemie hart getroffen hat. Den meisten meiner Freund:innen und Kolleg:innen ging es aber alles in allem gut. Viele konnten diese Zeit nutzen, um sich auf ihre Kunst zu konzentrieren, oder etwas Neues zu lernen. Viele konnten endlich mal ausspannen und fanden Zeit, um ohne FOMO zu Hause coole Filme zu gucken. Jetzt, wo sich alles wieder öffnet, habe ich das Gefühl, dass die Menschen all die kleinen Dinge und Momente nicht mehr als selbstverständlich ansehen. Es ist wieder möglich, abzuhängen oder zu tanzen, es ist alles ein bisschen anders, aber es fühlt sich frischer und lebendiger an als je zuvor.

Mustelide spielt am 27.08 um 18 Uhr in Pavillon. Karten gibts hier!