10 Fragen mit… JOJO ABOT

JOJO ABOT

Mit unserer Interview-Serie »10 Fragen mit…« möchten wir euch eine Reihe von Acts aus dem diesjährigen Programm von Pop-Kultur vorstellen, die unbedingt einen Platz in euren Playlists und Herzen verdient haben. Nach SADO OPERA, MADANII & LLUCID, Mueran Humanos, Eat Lipstick, Super Besse, 24/7 Diva Heaven, Theodora und Eden Derso ist JOJO ABOT die letzte Künstlerin in der Serie.

  1. Du hast Fela Kuti und Ebo Taylor als zwei wichtige Einflüsse genannt. Gibt es bestimmte Platten von ihnen, die einen besonderen Eindruck auf dich und deine künstlerischen Ambitionen gemacht haben?

Was diese beiden Könige anbelangt, hat das denke ich eher damit zu tun, wie ihre Gaben von ihrem Genie durchwebt waren. Die komplexen Kompositionen, die kühnen Ansagen, die Vision und das Gebet für Schwarze Menschen überall auf der Welt, das hat sie für mich als Legenden hervorstechen lassen. Sie sind zeitlose Visionäre mit viel Leidenschaft für die Menschen und einer großen Portion Respekt für unser Erbe und unsere Kultur. Das ist etwas, das auf dieser Ebene selten ist und als Motivation und Kompass darin dient, das Potenzial und den Verlauf meiner Arbeit zu erkunden.

  1. Im Juni hast du eine Collage mit Aufnahmen von Nina Simone über deinen YouTube-Kanal veröffentlicht. Was ist deine Beziehung zu ihrem Schaffen?

Nina Simone begriff die Rolle, die Politik in der Kunst spielt, und tatsächlich würde ich sogar soweit gehen, dass sie Kunst als in und an sich politisch betrachtete. Sie verstand die Kraft ihrer Stimme und Präsenz. Sie verstand die Notwendigkeit einer globalen Schwarzen Existenz, Gemeinschaft und Verbindung. Sie reiste umher, um das anzutreiben und in ihren Anstrengungen, sich selbst zu finden, ihr kulturelles Erbe und ihr Heimatgefühl, verband sie Afrika mit den Amerikas und hat auf eine Art ihren sehr großen Anteil zu unserer geteilten Erfahrung im Ringen um weltweite Befreiung geleistet. Sie war eine Gläubige, ein Leuchtfeuer, eine Frau jenseits ihrer Zeit.




  1. Du schreibst deine Lyrics sowohl in Ewe als auch auf Englisch. Unterscheiden sich dein schriftstellerischer Ansatz oder das poetische Ergebnis je nachdem, auf welche Sprache du zurückgreifst?

Wie jemand im Bewusstsein und im Geist kommuniziert, geht über Sprache hinaus. Sprache, wie wir sie verstehen, schränkt uns in unserem Ausdruck ein. Sie verwässert oder lenkt gar von der Wirkmacht unserer Absicht ab. Es braucht daher viel Können und Aufmerksamkeit, um Sprache unvoreingenommen zu verwenden. In Ewe und Englisch zu schreiben entspricht meiner inneren, endlosen Sprache und im selben Zug ist das Schreiben meiner Instrumentals, Harmonien und Melodien auf ihre jeweils unterschiedlichen Arten Teil dieser Sprache. Letztlich konzentriere ich mich auf die übergreifenden Botschaften und Heilmittel.

  1. Dein Debüt »Fyfya Woto« erzählte im Verlauf von nur vier Tracks eine ganze Geschichte. Wie wirkte sich das literarische Konzept auf die Musik aus? 

Das klingt nach einem Henne-Ei-Problem. Was kommt zuerst, fragst du, oder wie ermöglicht das eine das andere? Es gibt keinen linearen Ablauf in meiner Arbeit. Alles arbeitet gleichsam miteinander, befüttert einander in einer heiligen und spontanen und doch intentionalen Form von Alchemie. Die Geschichte eine jungen Ewe-Frau zu erzählen, die während der Zeit der Sklaverei in einer kompromittierenden Situation mit ihrem kaukasischen Liebhaber erwischt wird, ist nahezu unmöglich in nur vier Songs zu erzählen. Das literarische Konzept ist die Musik, die Musik ist das literarische Konzept. Der Samen bleibt ein Samen, obgleich er Früchte treibt. Alles bleibt auf ewig miteinander verflochten.

  1. Für deine eigene Musik verwendest du den Begriff »Afro-hypno-sonic«. Was bedeutet das genau?

Afro: auf afrikanischem Boden geboren, heilig. Hypno: hypnotisch. Sonic: eine einzigartige klangliche Frequenz. Nicht auf irgendein Genre festgelegt. Ein Klangraum ohne Begrenzung, angetrieben vom ewigen Hören und Selbstausdruck als Form von Hingabe, Er-Innerung und radikaler Heilung.

  1. In musikalischer Hinsicht bezieht sich deine Single »ALIME« mit Elo und Vuyo auf den Gqom-Sound aus Durban. Wie hast du zuerst von dieser Musik gehört und was zog dich daran an?

Ich habe für ein Jahr lang hin und wieder in Südafrika gelebt. Gqom hat mein Leben verändert und brachte mich dazu, House, Dance und Techno als von Schwarzen erschaffene Musik zurückzufordern – Sounds, die uns gehören. Schnell wurde mir bewusst, dass Gqom für mich die Sprache der uralten Geister ist. Der Treffpunkt von Geist und Technologie im Klang. Gqom bringt Trance und Heilung. Gqom ist das Spiegelbild machtvoller afrikanischer Heilmittel. Das hat mich daran angezogen. Mein uralter Geist würdigte die Frequenzen zutiefst. »Alime« behauptet nicht von sich, ein passgenauer Ausdruck dieses Sounds zu sein, aber stattdessen einen Treffpunkt der Welten darzustellen. Ein Loblied auf die Evolution des afrikanischen Sounds.




  1. Welche Botschaft versucht du mit deinem Schaffen zum Ausdruck zu bringen, sei es in der Musik oder in den visuellen Künsten?

Visuelle Kunst, Fotografie, Film, Musik und so weiter – das sind westliche Ideologien und Waren, die von westlicher Sprache eingeschränkt werden. Zuallererst bin ich Schöpferin. Eine Erweiterung des Göttlichen. Mich mit der Reinheit von Ansinnen und Demut zu äußern, ist meine Berufung. Mein Zweck. Meine Welle. Meine Gaben sind in dieser Welt, um Licht ins Dunkel zu bringen, um Heilung und Verantwortlichkeit zu geben. Meine Menschen zu ermächtigen und das reiche Erbe davon zu preisen, wer wir sind. Meine Arbeit bietet einen sicheren Ort an, um darin zum höheren Ich zurückzukehren. Von unseren Vorfahr*innen und der eigenen wahren und leitenden Kraft zu hören.

  1. Viel von deinem Schaffen ist interdisziplinär ausgelegt, das immersive Werk »Power to the God Within«, welches im Sommer 2018 Premiere feierte, eingeschlossen. Woraus bezieht ein Stück wie dieses seine Inspiration und wohin hoffst du, es zu führen?

»Power to the God Within« wurde aus dem Wunsch heraus geboren, der Schwarzen weiblichen Verkörperung des Göttlichen beizuwohnen. Es bot die Gelegenheit, mich selbst und Frauen wie mich zu re-präsentieren. Eine Chance, die Erhabenheit und Magie von uns zu durchschreiten. Als Stück beinhaltet es eine Multimedia-Ausstellung, immersive Theater-Performances, Gespräche, Workshops und Partys/Performances nach Art eines Festivals. Dieses Projekt erlaubt mir, alle meine Ausdrucksformen in Film, Fotografie, Mode, Sound, Installations- und bildender Kunst, Tanz/Bewegung und allgemein Design zusammenzuführen. Es erlaubt mir nicht allein, andere in eine Welt voller Ehrfurcht und Vorstellungskraft einzuführen, sondern lädt auch die Teilnehmer*innen dazu ein, sich selbst loszulassen mit dem Ziel, wieder zu sich als einem ganzheitlicheren, präsenteren, sanften und geliebten Selbst zurückzukommen. Ein sicherer Ort der Reflektion und Festlichkeit, welcher das volle Spektrum der menschlichen und geistigen Potenzialitäten zu leuchten erlaubt, ohne Rechtfertigungsdrang oder Scham.

  1. »Dokuidzidudu«, dein Projekt für Pop-Kultur, zielt darauf ab, Angst und Gemeinschaftlichkeit in Uganda zu erforschen. Wieso diese Themen?

Ich würde nicht sagen, dass diese Themen speziell im Kontext von Uganda untersucht werden, sondern vielmehr, dass ich in der Lage war, Angst vor dem Hintergrund Ugandas zu erforschen, einem Ort, an dem ich mich im Chaos ausgeglichen fühlte. Angst und ein Gefühl des überwältigenden Unbehagens, das wir kontinuierlich wahrnehmen in dieser Welt, in der wir keinen Raum für Katharsis finden. Das Stück versucht, diese von uns allen verinnerlichten Wahrheit anzuerkennen. Diese Verschiebung, die wir alle spüren. Es zielt darauf auf, Raum zu schaffen für Momente der absoluten Sorge und des Verlusts, die uns gelegentlich lähmen und überwältigen. Es zielt darauf auf, dem Prozess der Rückkehr zum eigenen Ich, ob alleine oder in einer Gruppe, mit Anmut und Güte zu begegnen. Das Stück erinnert uns daran, dass wir weiterhin geduldig, gütig und liebevoll zu uns selbst sein sollten, dass wir darin vertrauen, dass wir alle Menschen sind und gemeinsam hier sind.

  1. Was wünschst du dir für die Zukunft dieser Welt?

Ich fange mit dem Offensichtlichen an, Frieden. Darüber hinaus brauchen wir Empathie, Verantwortlichkeit, Ehrlichkeit, Güte, Geduld, Dienstlichkeit, Demut, Durchhaltvermögen, Einheit, Mitgefühl, Würde, Vergebung, Respekt, Liebe und spirituellen Reichtum. Ich wünschte, wir würden alle zu unseren Überzeugungen stehen und unseren Worten Taten folgen lassen.

BLACK LIVES MATTER

POWER TO THE PEOPLE

POWER TO THE GOD WITHIN

10 Fragen mit… Eden Derso

DJ Mesh & Eden Derso (Foto: Tamir Moosh)

Mit unserer Interview-Serie »10 Fragen mit…« möchten wir euch eine Reihe von Acts aus dem diesjährigen Programm von Pop-Kultur vorstellen, die unbedingt einen Platz in euren Playlists und Herzen verdient haben. Nach SADO OPERA, MADANII & LLUCID, Mueran Humanos, Eat Lipstick, Super Besse, 24/7 Diva Heaven und Theodora ist heute Eden Derso an der Reihe.

  1. 2Pac gehört zu deinen wichtigsten Einflüssen, ein Poster von ihm ist sogar in deinem letzten Musikvideo zu sehen. Wie hast du seine Musik kennengelernt und was macht ihn so wichtig für dich?

Das ist eigentlich A$AP Rocky alias Bae! In meiner Nachbarschaft war es unmöglich, die ganzen Graffiti zu ignorieren, die Tupacs Namen gewürdigt haben, seine Musik schallte noch lange nach seinem Tod laut durch die Straßen, und wir verliehen den härtesten Leuten vom Block sogar seinen Namen als Spitznamen. Ich denke, er lieferte uns ein Beispiel dafür, wie es sich unumwunden ehrlich sein lässt und was es heißt, für sich selbst einzustehen. In Israel gibt es das Vorurteil, dass die alten Äthiopier*innen nett und schwächlich sind und dass die Youngsters eine Gefahr für alle anderen darstellen, weshalb sie rassistisch diskriminiert werden. Tupac ließ mich glauben, dass ich, wenn ich meine Wahrheit nur laut genug ausspreche, ich Vorurteilen und Spekulationen über meinen Charakter und meine Absichten keinen Raum lassen würde.

  1. Du hast dich einmal als jüngste Rapperin Israels bezeichnet. Wann hast du angefangen, zu reimen?

Ich habe zuerst nur gesungen, aber jedes Mädchen in meiner Stadt sang damals, weshalb ich im Alter von acht Jahren mit dem Schreiben von Songs anfing. Mit elf oder zwölf Jahren dann habe ich angefangen, zu reimen, damals war Lil‘ Wayne wie ein Messias für mich – und ist das immer noch – und meine Brüder waren verrückt nach ihm. Sein Reimstil, seine Wortspiele und sogar seine Stimme waren die Hauptgründe für mich, wegen denen ich versuchen musste, selbst zu schreiben und meinen inneren Weezy zu entdecken.




  1. Du rappst und singst auf Hebräisch. Was bedeutet es für dich, diese Sprache zu verwenden, nachdem du deine Parts zuvor auf Englisch geschrieben hast?

Darüber habe ich in diesem Jahr viel nachgedacht, und mir wurde klar, dass ich auf Englisch geschrieben habe, weil ich von hier weg wollte. Ich hatte das Gefühl, dass mein Talent in Israel übersehen würde, weil es keine äthiopischen Popstars gab, unsere Kultur nicht in dem Maße gefeiert wurde wie ich das in Hinsicht auf Schwarze Kultur in Nordamerika gesehen habe. Von dem Moment an, in dem mein Selbstvertrauen und mein Talent sich zu entfalten begannen, spürte ich, dass ich der äthiopische Star sein könnte, der andere dazu bringen würde, selbst ins Rampenlicht treten zu wollen, jemand, der unsere Kultur hochhält.  Auf Hebräisch schreibe ich mittlerweile sehr frei, verwende meinen eigenen Slang und entschuldige mich nicht dafür. Auf Spanisch zu schreiben macht mir auch jede Menge Spaß. Sprachen machen ziemlich viel Laune solange du weißt, was genau du mit ihnen zum Ausdruck bringen willst.

 Der israelische Rapper Ravid Plotnik war extrem wichtig darin, dir das Potenzial der hebräischen Sprache für Rap-Musik aufzuzeigen. Was hat seine Lyrics für dich so besonders gemacht?

Ravid war der erste Rapper, den ich gehört habe, der seinen eigenen Slang hatte, der wirklich cool und nicht total übertrieben war. Er hatte eine echte Energie und eine Menge Respekt für die Stadt, aus der er kam. In Israel ist Tel Aviv die Stadt, die in Hip-Hop-Bars am meisten erwähnt wird, weshalb es erfrischend war, dass jemand sich dafür entschied, dass seine Stadt die eigentlich Hauptstadt des Raps war. Ich will das für Rehovot, für Kiryat Moshe leisten.

  1. Du sprichst sehr offen darüber, wie männerdominiert die regionale Szene ist. Was sind gute neue Rapperin, die wir auf dem Radar haben sollten?

Ehrlich gesagt immer noch dieselben Namen wie seit meinen Anfangstagen: Sima Noon, Echo und ich. Ich hoffe, dass wir dieses Jahr einige jüngere Mädchen mit tierischen Skills sehen werden. Ich interessiere mich sehr dafür, was diese Generation zu sagen hat, ich glaube, dass viele Stimmen noch ungehört sind, weil diese junge Generation sehr gut darin ist, seine Absichten hinter Social Media zu verstecken. Ich wünsche mir, dass uns COVID-19 einige neue Rapper*innen schenkt, die während der Quarantänezeit entdeckt wurden.

  1. Dein Debütalbum hieß »Keter Shakuf«, was übersetzt so viel wie »transparente Krone« bedeutet. Was bedeutet der Titel?

Der Titel »Keter Shakuf« hat sehr viele Bedeutungen für mich. Um mal die Hauptbedeutung aufzugreifen: Es handelt sich um Weckruf an mich und meine Ladys. Malcolm X hat einst gesagt, dass die am wenigsten respektierte, ungeschützteste und vernachlässigste Person in Nordamerika die Schwarze Frau ist und obwohl das vor vielen Jahren und in einem anderen Land gesagt wurde, scheint es mir irrsinnig, wie relevant die Aussage weiterhin bleibt. Ich will nicht, dass uns irgendwer beschützt, vielmehr möchte ich ihren Blick auf uns verändern, indem ich meine Haut, meine Schwestern preise. Zuerst müssen wir verändern, wie sie uns dazu gebracht haben, uns selbst wahrzunehmen, und dann müssen wir unsere Leben und Möglichkeiten verändern. Königinnen sollten wie Königinnen behandelt werden.




  1. Was charakterisiert deinen Arbeitsprozess mit DJ Mesh?

Der Arbeitsprozess von DJ Mesh und mir ist meistens ziemlich flott und intim, wir haben uns trotz des Altersunterschieds sehr gut angefreundet. Ich habe zum ersten Mal überhaupt so viel Zeit in einem Studio bei der Arbeit an einem Projekt verbracht, aber Meshs Anwesenheit und die Lektionen, die er mir auf die Reise mitgegeben hat, waren dermaßen zündend für mich, dass ich unbedingt am Ball bleiben und von einem von Tel Avivs Hip-Hop-G.O.A.T.s lernen wollte.

  1. Ihr habt auch an deinem neuen Album gearbeitet. Was kannst du uns darüber erzählen?

Das neue Album entstand in Kollaboration mit vielen verschiedenen Produzent*innen, wie etwa auf dem Song »Tamid«, der von CohenBeats produziert wurde, oder »Hakul Huz Me Halev«, der von Hefner produziert wurde. Ich habe das Gefühl, dass meine Stimme eine andere ist, sie war viel wütender, was schätze ich daran liegt, dass ich mich beweisen wollte und das ist absolut nichts Schlimmes. Aber ich bin jetzt 22 Jahre alt und werde bald 23 und möchte im Hier und Jetzt meine Ideen zum Ausdruck bringen. Das Album wollte ich als Ansammlung von Gedanken einer jungen Schwarzen Frau aus dieser Generation von äthiopischen Jüd*innen aus Israel anlegen. Es scheint mir, als wären wir viel frecher und selbstbewusster und ich würde liebend gerne die Hymnen für all jene in unserer Gesellschaft und anderswo beisteuern, die genauso fühlen.

  1. Und was können wir von deinem Projekt für Pop-Kultur erwarten?

Was ihr von meinem Projekt für Pop-Kultur erwarten könnt ist Power, unendliche Power. Nichts hat mehr Power als zu sagen, dass du nicht aufgibst und stattdessen dafür kämpfst, an Ort und Stelle zu bleiben. Der laufende Krieg zwischen der Regierung meines Landes und der Öffentlichkeit während der Pandemie lässt alle verzweifelt, alle suchen händeringend nach Arbeit und viele Menschen mussten ihre Geschäfte wegen finanzieller Probleme schließen. Aber meine Freund*innen aus der Musikszene denken niemals ans Aufgeben, obwohl sie sich alle abmühen, während sie neue Musik machen und veröffentlichen. Kunst lässt sich weder von Geld noch einer Regierung, die keine Notwendigkeit in ihrer Förderung sieht, aufhalten oder kontrollieren. Deshalb habe ich den Song »Tamid« für das Projekt ausgewählt.

  1. Was wünschst du dir für die Zukunft dieser Welt?

Ich wünsche mir, dass diese Welt jedes Wesen anerkennt, sie alle mit Geduld behandelt und nicht denjenigen Macht gibt, sie nicht weise damit umgehen können oder sollten. Ich hoffe, dass wir einer gesünderen Zukunft entgegenblicken.

10 Fragen mit… Theodora

Theodora (Foto: Clément Vayssières)

Mit unserer Interview-Serie »10 Fragen mit…« möchten wir euch eine Reihe von Acts aus dem diesjährigen Programm von Pop-Kultur vorstellen, die unbedingt einen Platz in euren Playlists und Herzen verdient haben. Nach SADO OPERA, MADANII & LLUCID, Mueran Humanos, Eat Lipstick, Super Besse und 24/7 Diva Heaven antwortet uns heute Theodora.

  1. Dein Hauptinstrument ist der Bass. Wann hast du angefangen, Bass zu spielen und wie kam es dazu?

Ich spiele Bass, seitdem ich dreizehn Jahre alt bin. Ich hörte damals schon eine Menge Rockmusik und mein Bruder hatte gerade angefangen, Gitarre zu lernen. Auf eine Art wollte ich genauso cool sein wie er, nur in anderer Weise, weshalb ich mir einen Bass kaufte und mit dem Spielen anfing!

  1. Welche Rolle spielt das Instrument in deinem Songwriting-Prozess?

Kommt ganz darauf an. Einen Song fange ich auf zwei verschiedene Arten an zu komponieren: Entweder finde ich eine Akkordfolge und den Anfang einer Melodie auf dem Synthesizer oder aber ich starte mit einer Rhythmus- und Basssequenz und füge die Akkorde hinzu. In beiden Fällen aber ist der Bass ein Schlüsselelement, weil ich mich immer darauf konzentriere, was er einem Song hinzufügt.

  1. In jüngster Zeit ist deine Musik sehr Dancefloor-orientiert gewesen. Woher nimmst du deine Inspiration?

Ich habe immer schon viel Techno, Italo Disco und House Music gehört und ich verfolge sehr aufmerksam, wie Musik bouncy und tanzbar wird. So habe ich angefangen, Songs wie »Bastante« oder »Get Obsessional« zu schreiben. Meine Inspiration kommt aus verschiedenen Zeiten und Stilen – ich liebe Kram aus den siebziger und achtziger Jahren wie etwa ESG, Giorgio Moroder oder Material aus den Neunzigern wie Green Velvet, Raze und düstere Sachen wie beispielsweise Röyksopp, TR/ST.




  1. Dein Projekt für Pop-Kultur ist in einer sehr speziellen Umgebung angesiedelt. Was kannst du uns über den Ort erzählen, an dem ihr gedreht habt?

Das Video haben wir in einem Club namens Le Petit Palace aufgenommen. In den Achtzigern war der Club Le Palace ein sehr bekannter Treffpunkt für Nachteulen. Über die Jahre wurde er sehr legendär! Dann aber schloss er und Le Petit Palace befindet sich direkt unter dem alten Club. Marco Dos Santos, der Regisseur des Videos, ist ein Resident-DJ im Petit Palace und dachte, dass es der perfekte Ort wäre, um dort »I Tried« aufzuzeichnen, weil die altmodische Atmosphäre dort perfekt zum Lied passt.

  1. Worum geht es in »I Tried«?

»I Tried« ist ein Liebeslied, aber auch ein Trennungssong. Wie eine Beschwörungsformel spricht er von den Bemühungen und Verfehlungen in einer Beziehung. Voller Nostalgie, befleckt mit Reue, hat der Song eine Energie, die nach vorne treibt und Veränderungen in der Handlungsweise zum Ausdruck bringt.

  1. »I Tried« wird auf deinem kommenden Album zu hören sein. Was kannst du uns schon über die Platte erzählen?

Die Platte heißt »Too Much For One Heart« und ist meine Debüt-LP. Auf eine Art ist sie eine Chronik meines Lebens zwischen meinem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr. Die Texte sind sehr introspektiv, aber ich wollte einen lebendigen und rhythmischen Sound. Weshalb ich für das Album auf ein Gefühl der tanzbaren Melancholie abgezielt habe. Veröffentlicht wird es im Frühjahr 2021!




  1. Deine letzte Single »Bastante« ist ein Sommersong, den du auf Italienisch singst. Was war die Idee hinter dem Stück?

Mit »Bastante« wollte ich Italo Disco auf meine eigene Weise neu interpretieren, House-Rhythmen mit Arpeggiatoren und Schichten zusammenbringen, die ich auf einem Prophet-Synthesizer eingespielt habe. Mir gefällt italienische Musik und die italienische Sprache, die ich auch gelernt habe, weshalb ich Melisande Labrande, eine meiner besten Freund*innen, mit der ich mehrfach in Italien war, Lyrics für mich zu schreiben. Ich habe mir eine kitschige Dance-Party im italienischen Sommer vorgestellt, eine Atmosphäre, die ähnliche Bilder hervorruft wie der Film »Call Me by Your Name« von Luca Guadagnino.

  1. Die italienische Kultur, allem voran die Krimiromane und –filme, die gemeinhin als »gialli« bezeichnet werden, spielen auch eine Rolle in deinem gemeinsamen Song »Lien de sang« mit Mila Dietrich. Was ist die Geschichte hinter dem Lied?

Letzten Sommer schickte mir Mila Dietrich ein Instrumental und fragte mich, ob ich nicht darüber singen wollte. Ich meinte zu ihr, dass es eine sehr dramatische Spannung hätte, die mich an einige Giallo-Soundtracks erinnerte, was mir unheimlich gut gefällt. Ich stellte mir eine Geschichte vor, die der Plot eines solchen Films sein könnte, ein Erotikthriller, in dem Liebe, Blut und Schauder zusammenkommen! Ihr gefiel das und so kam es, dass wir zusammengearbeitet haben.

  1. Im Allgemeinen singst du aber auf Englisch. Warum eigentlich?

Zugegebenermaßen gefällt es mir, auf Englisch zu schreiben; warum, weiß ich gar nicht. Aber es fühlt sich sehr organisch an, obwohl ich nicht bilingual bin. Ich liebe die evokative Kraft der englischen Sprache, ihre Polysemie.

  1. Was wünschst du dir für die Zukunft dieser Welt?

Das ist eine Frage, die mich gerade umtreibt. Ich denke, wir fragen uns dieser Tage alle, was wir tun können, wie wir unser Leben ändern könnten, weil viele Sicherheiten zusammengebrochen sind und das weiterhin tun. Es ist eine interessante Zeit, um sich neue Lebensweisen vorzustellen, zu versuchen, die alte Welt hinter uns zu lassen, alte Gewohnheiten, all die Dinge, die wir für notwendig erachtet haben. Ich wünsche mir ein globales Bewusstsein dafür, und ich wünsche mir, dass Kunst sich weiter ausbreitet, mehr und mehr Raum einnimmt, weil es eine Art des Hoffens ist, des Träumens.

10 Fragen mit… 24/7 Diva Heaven

24/7 Diva Heaven (Foto: Maren Michaelis)

Mit unserer Interview-Serie »10 Fragen mit…« möchten wir euch eine Reihe von Acts aus dem diesjährigen Programm von Pop-Kultur vorstellen, die unbedingt einen Platz in euren Playlists und Herzen verdient haben. Nach SADO OPERA, MADANII & LLUCID, Mueran Humanos, Eat Lipstick und Super Besse sind nun 24/7 Diva Heaven an der Reihe.

  1. Wie habt ihr euch kennengelernt und wie kam es zur Gründung der Band?

Kat: Wir kannten uns alle drei schon länger von Konzerten hier in Berlin, haben uns häufig an der Bar zugeprostet und haben eine Menge gemeinsame Bekannte. Mary (Schlagzeug) sprach mich (Kat, Gitarre/Vocals) dann eines Tages an, ob ich nicht mal Lust hätte, mal mit ihr zu jammen. Daraufhin vergingen nochmal etliche Monate, bis ich endlich zugesagt habe, da ich schon so lange keine Musik mehr gemacht hatte und erst einmal gewisse Hemmungen überwinden musste. Doch dann war es irgendwann endlich soweit und es hat direkt gefunkt! Uns war schnell klar: so wollen wir gemeinsam weitermachen. Zum wahren Glück hat dann nur noch der Bass gefehlt! Durch einen Tipp von gemeinsamen Bekannten erfuhren wir, dass Karo Bassistin ist. Wir haben sie gefragt – und sie hat ja gesagt. Der Beginn einer musikalischen Liebesgeschichte…

  1. Und wo kommt eigentlich der Name her?

Kat: Zugegeben, den Namen finden ein paar Leute wirklich schräg. Hier kommt die Geschichte dazu: Der Name ist abgeleitet von einer sehr coolen Veranstaltungsreihe, die regelmäßig in der Raumerweiterungshalle in Berlin stattfand. Diese hieß DIVA HEAVEN 7/11 und hatte sich zur Aufgabe gemacht, queere und weibliche Künstler*innen zu unterstützen und ihnen eine Plattform zu bieten. Da war immer irgendwie Glamour am Start: Glitzer, klasse Acts, viel Kreativität und ein buntes Publikum. Das hat uns total inspiriert. Diva zu sein bedeutet für uns das Aus-Sich-Herausgehen, das eigene facettenreiche Ich zu leben, auch wenn man damit aneckt oder nicht den gängigen Normvorstellungen entspricht. Unsere eigene Diva leben wir allerdings nicht nur von sieben bis elf Uhr, sondern eben 24/7. Ein 24-stündiger Trip im Diva Heaven sozusagen!




  1. Vor zwei Jahren hat euch niemand anderes als Jennifer Finch von L7 ein Bandlogo gemalt. Wie kam es dazu?

Kat: Das klingt tatsächlich etwas spektakulärer, als es eigentlich vonstattenging: Wir waren als Band gemeinsam auf dem L7-Konzert im SO36 und haben Jennifer Finch zufällig danach vor dem Club getroffen. Da wir gerade dabei waren, unsere erste EP aufzunehmen und zu designen, suchten wir noch fieberhaft nach Ideen fürs Cover. Wir dachten uns, es wäre cool, wenn der Bandname handschriftlich von einer der L7-Ladys dort geschrieben stehen würde. Wir haben Jennifer einfach gefragt und sie hat drauf los gemalt. Verwendet haben wir das Kunstwerk dann zwar doch nicht für die EP, aber ihre Antwort auf unsere Ansage, dass wir nun »eine Band gegründet haben«, ist bis heute legendär: »Oh, I’m sorry!« Das hat noch lange für Lacher gesorgt.

  1. À propos L7: Euer Sound ist merklich von Punk, insbesondere aber Grunge und Alternative Rock aus den neunziger Jahren beeinflusst. Was sind eure musikalischen Inspirationsquellen?

Kat: Die neunziger Jahre spielen musikalisch tatsächlich eine große Rolle für uns. Hier findet sich eine große gemeinsame Schnittmenge an Bands, die wir lieben und die eine große Inspiration für uns sind: Dinosaur Jr., Nirvana, Sonic Youth, Melvins und etliche andere. Allerdings sind wir musikalisch alle auch sehr vielfältig unterwegs und so schleichen viele weitere Einflüsse in unseren Sound ein, wie zum Beispiel auch Elemente aus Metal und Stoner Rock. Unser Anspruch ist es, Altbekanntes und Geliebtes aufzugreifen, aber nicht in Nostalgie zu verharren, sondern den Sound in ein modernes Gewand zu packen, welches unsere gemeinsamen musikalischen Vorlieben auf einen Nenner bringt. Dabei wollen wir auch gerne überraschen und nicht bloß irgendwelche Erwartungen an eine bestimmte Stilrichtung erfüllen.

  1. Ein Sound wie eurer entfaltet sich vor allem in der Konzertsituation. Euer Auftritt bei Pop-Kultur wird nun allerdings anders als zuerst erwartet. Was habt ihr euch für euer Set einfallen lassen?

Kat: Ja, da stimmen wir zu! Die Energie von Live-Konzerten ist tatsächlich kaum zu überbieten, denn in einer Konzertsituation kann ein guter Vibe wirklich das Beste aus den Musiker*innen herauskitzeln. Deswegen war die Aufnahme einer Session ohne Publikum schon eine Herausforderung, die vor allem darin besteht, sich in die richtige Stimmung zu versetzen. Wir haben uns für die Session allerdings nichts besonders Verrücktes einfallen lassen. Was unsere Performance angeht, sind wir eher Puristinnen und glauben, dass Musik und die Bewegungen dazu schon für sich sprechen dürfen. Worauf wir allerdings immer achten und uns vor jeder Performance freuen: Das gemeinsame Lippenstiftauflegen und Bühnenoutfitsaussuchen, das ist wirklich ein Ritual! So haben wir uns natürlich auch für die Pop-Kultur Session entsprechend vorbereitet. Und wenn man sich in seiner Haut wohl fühlt, lässt es sich meist auch besser Musik machen. So zumindest unsere Erfahrung. An der Stelle sei gesagt, wie klasse uns das gesamte Pop-Kultur Team durch den Tag begleitet hat, die Stimmung war einfach gut. Da fällt es uns auch leichter, auf der Bühne loszulassen.

  1. Neue Musik wird es wohl sowieso zu hören geben: Ihr arbeitet aktuell schon an einem neuen Album. Könnt ihr uns darüber schon etwas verraten?

Kat: Oh ja, wir freuen uns schon sehr darauf, die neuen Songs zu veröffentlichen! Es wird unser allererster Longplayer werden und das ist alles ganz schön aufregend. Wir geben den Songs gerade den letzten Feinschliff und September geht es dann ins Studio. Wir nehmen – wie auch bei unserer EP – live und mit Analog-Equipment auf. Es darf schon verraten werden, dass wir für dieses Album großartiges Label finden konnten, das diesen Weg mit uns gehen will. Darauf sind wir sehr stolz und freuen uns tierisch! Die Zusammenarbeit und der Veröffentlichungstermin werden sehr bald angekündigt. Sicher ist, dass das Album Anfang 2021 kommt. Stay tuned!




  1. Eure Debüt-EP »Superslide« habt ihr digital und auf CD, aber auch als Kassette veröffentlicht. Wieso dieses Format?

Kat: Freunde von uns haben das schöne kleine Tape-Label Mommy‘s Mistakes Records gegründet. Als sie uns fragten, ob wir Lust auf eine Tape-Edition von »Superslide« hätten, haben wir uns als alte Neunziger-Jahre-Nostalgikerinnen nicht lange bitten lassen und direkt zugesagt! Das Format löst bei vielen Menschen gute Gefühle aus, erinnert an die eigene Kindheit oder Jugend, an das Lieblingsalbum, das man im Walkman immer überall hingeschleppt hat. Das Schöne ist auch, dass man die Songs nicht einfach beliebig schnell hin und her skippen kann, eine gute Gelegenheit, sich ein Musikwerk mal in voller Länge anzuhören, statt nur einzelne Songs herauszupicken. Und anscheinend besitzen viele Menschen heutzutage auch noch ein Tapedeck, denn die Kassette hat sich ziemlich gut und fix verkauft!

  1. Schon mit euren Designs spielt ihr auf die Ästhetik und Inhalte der Riot-Grrrl-Bewegung an. Schlägt sich eure Auseinandersetzung mit sozialpolitischen Themen auch in euren Texten nieder?

Kat: Absolut. In den Texten behandeln wir die Themen, die uns tagtäglich beschäftigen, begegnen und mit denen wir uns permanent auseinandersetzen: Feminismus, Ungleichheit, Homophobie, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, ökologische Probleme und viele weitere Fragen, die wir uns als Gesellschaft und Individuen im Jahre 2020 stellen müssen. Musik ist auch immer Zeitgeist und wenn wir dazu beitragen können, dass Missstände ausgesprochen und diskutiert werden, dann möchten wir das auch tun. Dennoch ist es nicht unsere Art, zu predigen oder zu belehren und den Spaß dabei zu vergessen. Wir versuchen einfach in einen guten Flow zu kommen, dabei für unsere Überzeugungen einzustehen und eine Balance zu finden zwischen der Ernsthaftigkeit und aber auch der Ironie, die das Leben häufig mit sich bringt. Dieser Kontrast fasziniert uns sehr.

  1. »It’s okay to like us. Ask your mom first«, steht in eurer Selbstbeschreibung in den sozialen Medien zu lesen. Was sagen eigentlich eure Mütter zu eurer Musik?

Kat: Unsere Mütter sind stolz auf uns! Zumindest zwei unserer Mütter kommen selbst aus dem Rockmusikbereich, eine davon ist sogar riesen L7-Fan. No more words needed!

  1. Was wünscht ihr euch für die Zukunft dieser Welt?

Kat: Werden solche Fragen nicht immer am Ende von Miss-Wahlen gestellt? Weltfrieden würde die Antwort hier dann natürlich lauten! Diesen wünschen wir uns natürlich auch, aber es gibt noch eine Menge Baustellen, an die wir gemeinsam ranmüssen… In einer idealen Zukunft sind Menschen einfach Menschen und werden gleichberechtigt behandelt, fernab von Gender, sexueller Orientierung oder ethnischer Zugehörigkeit. Wir müssen lernen, wieder mehr im Einklang der Natur zu leben, diesen Planeten auch für kommende Generationen bewohnbar halten. Menschen sollen in Ruhe und Frieden leben können, ohne Krieg, Verfolgung und Armut. Klingt ziemlich unmöglich, vielleicht können wir ja aber als Gesellschaft einen Teil dazu beitragen, dass wir diesem Ziel zumindest ein kleines Stück näher kommen.

10 Fragen mit… Super Besse

Super Besse (Foto: Super Besse)

Mit unserer Interview-Serie »10 Fragen mit…« möchten wir euch eine Reihe von Acts aus dem diesjährigen Programm von Pop-Kultur vorstellen, die unbedingt einen Platz in euren Playlists und Herzen verdient haben. Auf SADO OPERA, MADANII & LLUCID, Mueran Humanos und Eat Lipstick folgen nun Super Besse.

  1. Wie habt ihr euch kennengelernt und wie kam es zur Gründung von Super Besse?

Maksim Kulsha: Alex und ich haben vorher in einer anderen Band zusammen gespielt, langweilten uns aber, weshalb er vorschlug, etwas anderes zu versuchen. Wir fragten einen Freund von uns, ob er nicht mitmachen und bei uns Keyboard spielen wolle. Bei der ersten Probe schrieben wir zwei Songs, und weil es so schnell und reibungslos vonstatten ging, gründeten wir eine Band.

  1. Ihr habt euch nach einem berühmten Wintersportressort in Frankreich benannt. Warum eigentlich?

Maksim: Alex schaut die Tour de France und andere Rennsportturniere, weshalb er das Ressort kannte, weil es die Tour de France dort vorbeiläuft. Außerdem klingt es auf Russisch wie »Superdämonen«, was lustig ist, weshalb wir uns für den Namen entschieden.

  1. Nachdem sich euer Debütalbum »63610« seinen Titel von der Postleitzahl von Super Besse lieh, habt ihr euren zwei anderen LPs französische Titel gegeben. Woher kommt eure Affinität für die französische Sprache?

Maksim: Wir sind von einer ganzen Menge französischer elektronischer und Wave-Musik sowie Post-Punk inspiriert, und entschieden uns deshalb dafür, das weiterzuführen. Was sollen wir sagen, wir lieben Frankreich einfach!




  1. Obwohl ihr französische Titel verwendet, schreibt ihr eure Lyrics auf Russisch. Welche Rolle spielt die Sprache in eurer Arbeit?

Maksim: Eine ziemlich große, um ehrlich zu sein. Wir haben schon bei unserer ersten Probe Russisch verwendet, weil Englisch für den Post-Punk, wie wir ihn hören wollten, einfach zu soft. Und Französisch beherrschen wir einfach nicht gut genug. Deshalb war Russisch die einzige Wahl und es ist so viel leichter für uns, etwas zu schreiben, das emotional bewegt.

  1. Euer aktuelles Album »Un Rêve« ist viel Dancefloor-orientierter als seine beiden Vorgänger. Was hat die LP inspiriert?

Maksim: Wir haben vor gut zwei Jahren mit der Arbeit an dem Album begonnen. Wir haben ein paar Entwürfe geschrieben, aber machten etwas, das wir schon längst getan hatten und wiederholten lediglich den klassischen »Super-Besse-Sound« der zwei vorigen Alben. Das langweilte uns aber. Wir wollten etwas Frisches. Außerdem beschäftigten wir uns zunehmend mehr mit elektronischer Musik und Techno. Deshalb entschieden wir uns, unseren Post-Punk-Ansatz mit Techno-Beats zu kombinieren. Wir hatten eine Menge Spaß daran, an »Un Rêve« zu arbeiten und schrieben viel mehr Songs, als auf der LP zu hören sind. Ausgewählt haben wir sie entsprechend des Themas des Albums – »Ein Traum«.

  1. Obwohl ihr nur als Duo arbeitet, bringt eure Musik traditionelle Rockinstrumente mit elektronischem Equipment zusammen. Welches Gear ist für eure Arbeit besonders wichtig?

Maksim: Wir haben analoge Synthies und Drummachines verwendet, sogar auf der Bühne bei Konzerten. Es war aber sehr umständlich, mit denen live aufzutreten, weshalb wir mittlerweile einen Backing-Track  verwenden. Unser letztes Album haben wir mit Plug-ins und einem MIDI-Keyboard sowie voraufgenommenen Sounds der TR-606 Drummachine von Roland aufgenommen. Und Gitarren, versteht sich.




  1. Eure Videos haben von Anfang mit der Erwartungshaltung der Zuschauer*innen gespielt: »Mne Vse Odno« zum Beispiel zeigte die Band dabei, absolut gar nichts zu machen, während im Hintergrund der Song lief. Was ist euch wichtig, wenn ihr Musikvideos erarbeitet?

Maksim: Unser hauptsächliches Ziel ist es, Spaß zu haben. Wenn wir beim Schreiben unserer Songs, der Produktion unserer Videos oder auf Tour keinen hätten, würden wir es lassen und hätten keine Reue. »Mne Vse Odno« (»Ist mir egal«) haben wir in unserem Proberaum selbst aufgenommen. Wir beschlossen, dass es einfach witzig wäre, das Video so zu machen und dachten aber sonst nicht sonderlich viel darüber nach.

  1. Und was hat es eigentlich damit auf sich, dass ihr auf euren Social-Media-Kanälen alle Bilder nur umgedreht postet?

Maksim: Das ist noch so etwas, das wir rein aus Spaß machen. Es ist ziemlich langweilig, reguläre Bilder zu posten, weshalb wir sie immer umdrehen. Auf die Art erkennen die Zuschauer*innen auch sofort, dass wir es sind.

  1. Bei Pop-Kultur tretet ihr live auf – in zwei verschiedenen Ländern! Wie habt ihr diesen Gig vorbereitet?

Maksim: Alex nahm seine Parts in Minsk auf und wir schickten das Video an unsere Freundin, die Künstlerin Daria Sazanovich, die ihm einen träumerischen Glitch-Effekt verpasste. Dann projizierten wir das Video auf mich, als ich ihn Berlin spielte, es ist also eine superdigitale Performance. Für uns ziemlich einzigartig und eine sehr besondere Live-Erfahrung!

  1. Was wünscht ihr euch für die Zukunft dieser Welt?

Maksim: Weniger Gewalt. Mehr Liebe.

10 Fragen mit… Eat Lipstick

Eat Lipstick (Foto: Evel Smoke)

Mit unserer Interview-Serie »10 Fragen mit…« möchten wir euch eine Reihe von Acts aus dem diesjährigen Programm von Pop-Kultur vorstellen, die unbedingt einen Platz in euren Playlists und Herzen verdient haben. Auf SADO OPERA, MADANII & LLUCID und Mueran Humanos folgen nun Eat Lipstick.

  1. Eat Lipstick wurden von Anita Drink und The Shredder gegründet, nachdem die beiden in den frühen Nullerjahren nach Berlin gezogen waren. Was hat euch in die Stadt gebracht?

Liebe und Musik! Die Kunst und das Gefühl von Romantik in der Luft… Oder doch etwa die Drogen?

  1. Was auch immer es gewesen ist, so kam die Band zuerst als DJ-Duo zusammen. Was habt ihr damals aufgelegt und wie ging es von dort aus weiter?

Na ja, die Band hat nicht als DJ-Duo begonnen. Wir fanden aber zueinander, als Anita Drink eines abends auflegte und gemeinsam mit Clea Cutthroat dem Shredder über den Weg lief. Clea Cutthroat war ein Gründungsmitglied und wir haben das Konzept gemeinsam erarbeitet. Anita spielte damals schon auf einigen Partys als DJ elektronische Musik, Disco, Rock, Punk, Metal und Trash, als wir Eat Lipstick gründeten. Wir verfeinerten unseren Band-Sound weiter, nachdem wir bei Partys und Veranstaltungen aufzutreten begannen. Das Trio entwickelte sich aus einer Dance-Perspektive heraus, weil The Shredder live elektronische Beats mit Gitarren und zwei heißen Sängerinnen zusammenbrachte. Danach entschlossen wir uns dazu, eine Live-Band mit Bass und Schlagzeug zu gründen. Für eine kleine Weile spielte sogar Kevin Mooney von Adam and the Ants bei uns Bass. In dieser Zeit stieß Tom Petersen am Schlagzeug hinzu und schließlich schlidderte Citizen Pain in unsere Herzen und ergänzte uns als Bassistin und Sängerin. Wir hatten in diesen prägenden Jahre eine ganze Reihe von Legenden, die mit uns auf der Bühne gemeinsam gesungen haben. Eine Weile später fingen wir dann an, als DJ-Team zusammenzuarbeiten und mischten Techno, Rock, Punk und Disco plus echte Dance-Trax zu einem verdammt glamourösen Party-Mix!

  1. Die ursprüngliche Punk-Bewegung stand nicht sonderlich auf Disco. Eure Musik bezeichnet ihr dennoch als »Disco Punk« Was sind ist das Grundrezept des Eat-Lipstick-Sounds?

Die ursprüngliche Punk-Bewegung hat sich einer Menge anderer Stile zugewandt, darunter auch Disco, darling! Und Reggae, Krautrock, und so weiter. Wir nehmen Elemente deiner Seele, tun Disco und Glam hinzu und servieren das Ganze dann mit einer scharfen Punk-Sauce made in Berlin. Alle aufs Piratenschiff und los geht’s!




  1. Euer jüngstes Album »New Wig! No Rules!« wurde von Peaches produziert. Was ist eure Beziehung zu ihr und wie gestaltete sich euer Arbeitsprozess?

Peaches gehört zur Familie dazu. Sie ist eine erfahrene Musikerin, die immer dazu bereit ist, mit uns neue Wege zu betreten und das Beste aus uns herauszuholen. Sie brachte über die Zeit hinweg ihre eigenen Methoden und Ideen mit ein. Jeder Tag begann gegen Mittag und die Arbeit war erst dann zu Ende, wenn wir den richtigen »High Heaux! Lipstick Glow!« eingefangen hatten. Wir zogen in den Flughafen Tempelhof, in einem der alten Terminal-Büros befindet sich ein fantastisches Studio, in dem wir arbeiten konnten. Unser furchtloser Soundtechniker Marco »Jegi« Jeger, der auch schon an unserem ersten Album mit uns und Peaches zusammengearbeitet hatte, entwarf für jedes Stück einen Plan, je weiter wir kamen. Das war sehr aufregend, weil wir in diesem Prozess mit Peaches neue Songs schrieben oder ausarbeiteten, das war etwas Besonderes. Sie hatte einige tolle Gedanken zu Lyrics aus einer Gender-freien oder nicht-binären Perspektive und zur Relevanz der Werte, die damit einhergehen, da auch das Teil unserer Entwicklung und Geschichte war.

  1. Der Song »Mann oder Frau« wurde von Lemmy Kilmister inspiriert. Was genau hat sich da zugetragen?

Der Song dreht sich um eine echte Begebenheit, die sich zutrug, als Anita eines abends auflegte, und die später sogar in ein Script hineingeschrieben wurde, an dem sie mitwirkte. Lemmy und Anita trafen zuerst während der Aufnahmen und Live-Performances zu »Fast Fiction« aufeinander, einem Live-Dinner-Theaterstück, das im legendären White Trash Fast Food um etwa das Jahr 2009 herum stattfand. Während einer der Live-Shows fanden es der Regisseur und die Produzent*innen witzig, Anita auf der Bühne mit niemand Geringerem als Lemmy zu konfrontieren, der das Bild betrat und »Mann oder Frau?« fragte, als sein Blick erstmals auf Mizz Drink fiel. Das Publikum brüllte vor Lachen. Es war ein historischer White-Trash-Moment.

  1. Viele eure Lyrics sind zu einem gewissen Grad autobiografisch, aber sie greifen auch soziale Themen auf. Haben Eat Lipstick eine politische Agenda und wenn ja, wie würdet ihr diese zusammenfassen?

»EAT LIPSTICK!« sagt doch schon alles, meinste nich‘?

  1. Euer neues Album »New Wig! No Rules!« habt ihr auf eigene Faust veröffentlicht. Steht ihr für einen D.I.Y.-Ansatz ein?

Den hatten wir immer, weil er unbedingt zu Berlin und im Allgemeinen zum Punk-Ethos gehört, der so gut zu unserer Trickkiste passt. Unabhängige Frauen, unabhängige Mittel! Unsere Musik sollte so viele Menschen wie möglich erreichen und das bedeutet, dass wir hart daran arbeiten, euch unser Bestes zu geben. Auf jeder Bühne, zu jeder Zeit! Unser Album findet ihr online oder am besten direkt auf www.eatlipstick.com.




  1. Mode scheint im Eat-Lipstick-Kosmos eine große Rolle zu spielen und Anita Drink leitet sogar ihren eigenen Store, EXIT, in der Wiener Straße. Was ist diesbezüglich eure Philosophie – habt ihr ein festgelegtes Konzept davon, wie die Band aussehen sollte?

Mode ist auf der Bühne und dahinter Teil unseres Selbstausdrucks. Ein festgelegtes Konzept gibt es nicht, glamourös muss es aber sein, dahhhlink! Jede*r von uns bringt einen eigenen Stil mit, aber wir alle tragen sozusagen denselben »Lippenstift« auf. Bei EXIT entwerfen und produzieren wir unser Merchandise und es ist toll zu sehen, wie die Fans unsere Mode sammeln und verehren! Kommt doch in unsere Boutique und schaut euch um, oder stattet uns online einen Besuch ab, was auch immer euch lieber ist! Was das Konzept anbelangt: Erwarte das Unerwartete, darling!

  1. Bei Pop-Kultur werdet ihr mit einem leicht veränderten Line-up auftreten. Wie kommt’s – und was können wir von der Performance erwarten?

Ihr könnt erwarten, dass wir alles für unsere Schwester Citizen Pain geben, die momentan wegen des unerwarteten Chaos nicht als Bassistin und Sängerin dabei sein kann. Wir wünschen ihr alles Gute! Wir lieben sie und können es kaum erwarten, sie mit zurück auf die Bühne zu holen. Für diese »limited edition«-Performance allerdings haben wir einen ganz besonderen Gast eingeladen. Wir freuen uns darauf, dass Mr Sinister Kris mit uns bei Pop-Kultur auf der Bühne stehen wird und dass Betty Dynamite uns mit Backing-Vocals aushilft.

  1. Was wünscht ihr euch für die Zukunft dieser Welt?

Dass es sie weiterhin gibt, damit wir weiterhin rocken können! Wir wünschen uns Liebe und Lipstick und dass sich alle ein Exemplar unserer neuen Platte holen. New Wig! No Rules

10 Fragen mit… Mueran Humanos

Mueran Humanos

Mit unserer Interview-Serie »10 Fragen mit…« möchten wir euch eine Reihe von Acts aus dem diesjährigen Programm von Pop-Kultur vorstellen, die unbedingt einen Platz in euren Playlists und Herzen verdient haben. Auf SADO OPERA und MADANII & LLUCID folgt in dieser Woche das Duo Mueran Humanos.

  1. Ihr veröffentlicht seit dem Jahr 2007 zusammen Musik. Wie habt ihr euch kennengelernt und was führte zu eurer Zusammenarbeit?

Carmen Burgess: Wir haben uns in Buenos Aires kennengelernt, als Tomas seine alte Band DIOS verließ und ich in einer Gruppe namens Mujercitas Terror spielte. Ein paar Jahre später lebte Tomas in Europa und ich kam ihn besuchen. Ich war auf eine Art von der Musik enttäuscht und wollte mich ausschließlich auf Kunst und experimentelle Filme konzentrieren. Als wir zusammenlebten, fingen wir allerdings damit an, nur für uns selbst zu spielen, und ich konnte dem nicht entkommen. Tomas schlug vor, eine Kunstgruppe zu starten, bei der ich meinen Kram machen konnte – Videoexperimente vor allem – und für die wir die passende Musik produzieren könnten, ein bisschen wie bei Coum Transmissions. Aus unserer Kunstgruppe wurde mehr und mehr eine Art Rockband. Viele der frühen Filmarbeiten wurden wieder ausgegraben, als wir das Video produzierten, das unser Album »Hospital Lullabies« begleitet.

  1. Das Video zu »Hospital Lullabies« wurde von Carmen gefilmt und sie führte auch Regie. Aus welcher Motivation heraus habt ihr für ein ganzes Album anstatt wie üblich für nur zwei oder drei Songs einen Film produziert?

Carmen: Wir waren gerade dabei, das Abmischen des Albums zu Ende zu bringen und unterhielten uns mit dem Label über die Release-Details. Eines Tages erwähnte ich einer Freundin gegenüber, dass die Songs von Mueran Humanos auf YouTube meistens als Uploads von anonymen User*innen, die lediglich das Cover-Artwork zeigen, mehr Views bekommen, als es reguläre Musikvideos tun. Die Freundin schlug also vor, dass wir das gesamte Album hochladen sollten, bevor es irgendjemand anderes täte. Der Gedanke gefiel uns und wir begannen, das Material zu sichten, das sich bei mir angehäuft hatte. Während des Abmischens fiel uns auf, dass einige der Bilder zum Album passten, weshalb ich ziemlich hart dafür arbeitete, sie mit der Musik zusammenzubringen und sogar neues Material drehte.




  1. Das Video ist buchstäblich sehr eindringlich und bringt Körperhorror mit Erotizismus zusammen. Wie passen die Bilder zur Musik und den Inhalten der Songlyrics?

Carmen: Ich gehe Musik und Video instinktiv an. Du kannst Erotizismus mit einem Beigeschmack von Wahn ganz deutlich im Video sehen und dasselbe auch beim Hören unserer Musik fühlen – also, zumindest geht es allen so, die noch Gefühle in sich tragen. Die Mädchen aus dem Film sind wild, im Video wird eine unberührte Kindheit dargestellt. Dasselbe gilt für uns und unsere Musik. Alles, was ich mache, folgt demselben Prinzip: Es muss spielerisch und echt sein.

  1. Eure Alben-Cover folgen einer krassen Ästhetik und die meisten von ihnen zeigen menschliche, fast puppenhafte Gesichter, die wie mutiert oder sogar verstümmelt scheinen. Wie ergibt sich diese implizite Leitmotiv?

Tomas Nochteff: Die meisten der Cover – nicht das letzte, aber alle anderen – sind Teil eines Projekts von Carmen, für welches sie mit dem Teenie-Magazin Seventeen gearbeitet hat. Sie hat siebzehn Cover-Versionen von siebzehn Seventeen-Ausgaben erstellt und ist ziemlich brutal damit umgegangen. Ich habe das als Reaktion darauf verstanden, was die Gesellschaft jungen Mädchen abverlangt, nämlich dumm und oberflächlich zu sein. Carmen ließ ihrem Hass auf diesen Gedanken mit jeder Menge Humor, Grausamkeit und Gore freie Bahn. Das ist nur mein Verständnis davon und ich bin nicht sicher, ob sie dem zustimmen würde, vermutlich steckt noch mehr dahinter. Jedenfalls dachten wir, dass sie die perfekten Alben-Covers wären. Uns gefiel ihre Absurdität und die Balance zwischen Schönheit und Ekel.

  1. Pop wird vor allem im Bereich der elektronischen und der Rockmusik, von englischen Vocals dominiert. Was bedeutet es für euch, auf Spanisch zu singen?

Carmen: Na ja, es fühlt sich eher so an, als würde die gesamte Welt und nicht allein die Musikwelt von der englischen Sprache dominiert. In meiner eigenen Welt ist dem aber überhaupt nicht so, und in der passiert außerdem noch eine ganze Menge. Das beschäftigt mich viel zu sehr, als dass ich überhaupt darüber nachdenken könnte! Mir fällt schnell auf, wie klassistisch und manchmal auch rassistisch die Leute sind, ich hasse es besonders, das bei Menschen zu sehen, die angeblich zur Gegenkultur gehören. In der Szene bin Menschen begegnet, die wirklich glauben, als Polizist*innen und nicht etwa als Künstler*innen oder Musiker*innen auf die Welt gekommen zu sein. Wenn du natürlich aus einem wohlhabenden Land kommst, fällt es dir natürlich schwerer, das zu bemerken, weil du deiner Herkunft entsprechend besser behandelt wirst. Ich komme aus einem ärmlichen Land und als Band ist das für uns von Nachteil, denke ich. Aber ich bin Künstlerin und keine Yuppie. Wir singen auf Spanisch, weil sich das für uns natürlich und real anfühlt. Das bedeutet nicht, dass wir nicht auf Französisch oder Deutsch oder Englisch oder Vietnamesisch singen, es müsste nur natürlich kommen.

Tomas: Einen Plan gab es nie. Auf Spanisch zu singen, fühlte sich natürlich für uns an, und als die Leute hinzuhören begannen, überraschte uns das zuerst. Dann dachte ich mir, dass es eine schöne Erfahrung sei, Musik zuzuhören, ohne die Lyrics zu verstehen. Du denkst dir mittels deiner Vorstellungskraft deine eigenen aus. Ich glaube nicht, dass du unsere Lyrics verstehen musst, um nachvollziehen zu können, worum es uns geht.

  1. Literatur ist eine wichtige Komponente im Universum von Mueran Humanos. Welche Autor*innen haben euch in letzter Zeit besonders gefallen und wem sollte eurer Auffassung nach mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden?

Tomas: Vor Kurzem habe ich die vollständigen Werke von Arthur Machen und Algernon Blackwood gelesen, meine zwei liebsten Autoren aus dem Bereich des kosmischen Horrors. Alles von ihnen ist grandios. Ich habe mich auch zunehmend mit den Romanen von Graham Greene beschäftigt, die unterhaltsam sind und doch Tiefe haben, was mir sehr zusagt. Genauso habe ich mich mit Mario Levrero und Rodolfo Fogwill sowie der Lyrik von Mina Loy auseinandergesetzt. Ein Roman, den ich zuletzt gefunden und geliebt habe, ist »Generación Cochebomba« von Martin Roldan. Er spielt in Lima in den späten achtziger Jahren während der Sendero-Luminoso-Jahre. Den kann ich total empfehlen. Der Autor ist ein Punk-Musiker, er war dabei und der Roman ist wie ein Schlag ins Gesicht. Ich hoffe, dass er bald übersetzt wird, das wäre absolut verdient.




  1. Eure Musik ist sehr vielseitig und speist sich gleichermaßen aus experimentellen elektronischen Sounds wie konventionellen Rock-Strukturen. Was sind die essentiellen Zutaten eines Mueran-Humanos-Songs?

Tomas: Ich glaube kaum, dass wir jemals einen Song geschrieben haben, der konventionellen Rock-Strukturen folgt. Aber ich verstehe, was du meinst, und tatsächlich haben wir sehr hohe Ansprüche daran, was ein Mueran-Humanos-Song mitbringen sollte. Du hast ganz richtig erraten, dass dabei eine ganze Reihe von Elementen aufeinandertrifft. Meistens steht am Beginn ein roher, abstrakter Sound, der uns beiden gefällt und dem wir aber eine Bedeutung verleihen wollen, weshalb wir Lyrics hinzufügen, was eine ganze Weile dauern kann. Zusätzlich braucht es eine gute Melodie, einen guten Rhythmus und natürlich eine wiedererkennbare Atmosphäre und eine hypnotische Qualität. Wir wollen, dass jeder Song eine lebendige Einheit bildet, wie ein Ort, den du aufsuchen kannst… Das ist ein ambitioniertes Ziel, das vermutlich unmöglich erreicht werden kann, aber welcher Sinn liegt darin, nicht ambitioniert zu sein? Wie heißt es doch so schön in diesem Lied: »It’s my party, and I cry if I want to«.

  1. Eure Alben transportieren in der Regel ein gewisses »Live-Feeling«. Wie gestaltet sich euer Arbeits- und Aufnahmeprozess?

Tomas: Wie bei allem für uns ist das ein Experiment und in der Regel handelt es sich um einen langen und sehr detaillierten Prozess. Gemeinhin aber versuchen wir immer, improvisierte Elemente oder auf die Schnelle entstandene Aufnahmen miteinzubeziehen, um es lebendiger zu gestalten. Wir wollen keinen allzu sauberen oder präzisen Sound, sondern zielen auf ein Gefühl, eine Atmosphäre ab, und Teile unserer Platten werden wie in einem Labor konstruiert, sehr detailversessen und mit manchen sehr »unpunkigen« Methoden. Wir können uns drei Tage lang über die Lautstärke einer Snare-Drum streiten, werden obsessiv und verlieren den Verstand. Das ist ungesund, schätze ich, aber ich liebe es. Wenn du nicht riskierst, für deine Kunst dem Wahnsinn anheim zu fallen, warum überhaupt machst du sie? Wir schmeißen spontane Elemente in den Mix, um das auszubalancieren und lassen bisweilen sogar ein paar Fehler drin, die sich leicht beheben ließen und von denen wir es doch vorziehen, sie zu erhalten. Es ist Alchmie.

  1. Besonders eure Live-Konzerte zeigen euer Faible für exzessive Improvisation, ganz ähnlich der von klassischen Kraut- und Psych-Rock-Bands. Was für eine Erfahrung wollt ihr eurem Publikum bereiten?

Tomas: Bei unseren Live-Shows blüht unsere Gruppe wirklich auf. Unsere Musik entsteht sowie live, beide von uns spielen zur selben Zeit. Auf der Bühne haben unsere Stücke offene Strukturen, sodass wir sie ausdehnen oder modifizieren können. Wir wissen nie, wie genau wir sie am selben Abend noch spielen werden. Sie sind wie ein Lebewesen. Mir gefällt die Gefahr daran.

  1. Natürlich aber wird sich euer Beitrag zu Pop-Kultur von der gewohnten Mueran-Humanos-Erfahrung unterscheiden. Könnt ihr uns schon verraten, was ihr geplant habt?

Tomas: Wir machen ein Video-Fanzine, das im TV-Show-Format von Pop-Kultur als Intervention dient. Darin werden wir verschiedene Dinge zeigen, die wir in verschiedenen Medien gemacht haben. Gedreht und aufgenommen wird in unseren Berliner Studio, speziell für das Festival mit einem Team aus Partner*innen, mit denen wir regelmäßig zusammenarbeiten.

 

10 Fragen mit… MADANII & LLUCID

MADANII & LLUCID (Foto: Gianna Shamone)

Mit unserer Interview-Serie »10 Fragen mit…« möchten wir euch eine Reihe von Acts aus dem diesjährigen Programm von Pop-Kultur vorstellen, die unbedingt einen Platz in euren Playlists und Herzen verdient haben. Auf SADO OPERA folgt diese Woche das Duo MADANII & LLUCID.

  1. Wie habt ihr euch kennengelernt und was war eure Motivation, miteinander Musik zu machen?

MADANII: Wir haben uns eigentlich total zufällig gefunden. Ich habe 2016 in der Uni-Facebook-Gruppe nach Tipps zu guten Kopfhörern gefragt und LLUCID hat sich gemeldet. Am nächsten Tag habe ich herumgefragt, wer Bock hat mit mir an MADANII zu arbeiten und schon wieder hat sich keine*r gemeldet außer LLUCID. Und da wir uns eh schon kannten und er ein »Sandcastles«-Beyoncé-Cover von mir auf Soundcloud gehört hatte und das ganz cool fand, haben wir das dann gemacht.

  1. Eure Musik ist stilistisch sehr abwechslungsreich und vielseitig, ihr bringt offensichtlich viele verschiedene Einflüsse mit. Was ist zwischen euch beiden Minimalkonsens – welche Künstler*innen, Alben, Songs gehen immer?

LLUCID: Gut, dass ihr fragt! Wir haben letztens erst eine Playlist mit unseren Lieblings-Tracks gemacht, die unseren Minimalkonsens ziemlich gut beschreibt. Wir nennen sie MiiLLkshake! Ich denke, grundsätzlich haben wir uns über die letzten drei bis vier Jahren musikalisch ziemlich aufeinander zubewegt. Wir haben aber natürlich beide unsere persönlichen Favoriten und Genres, aber Künstler*innen wie FKA twigs, Hiatus Kaiyote oder Col3trane finden wir schon beide ziemlich

nice!

  1. Eure Tracks sind gleichermaßen clubkompatibel, wie sie weitestgehend Pop-Strukturen folgen. Wo und in welcher Situation sollte eure Musik am besten gehört werden?

MADANII: Am besten sollten die Songs da gehört werden, wo die Hörer*innen sie gerade eben hören wollen. Das kann ja für jede*n ganz unterschiedlich sein.




  1. MADANII bringt traditionell persische Elemente in den Gesang ein, die nicht selten auch in der Musik ihre Entsprechung finden. Wieso räumt ihr diesen traditionellen Elementen dermaßen viel Platz in einem sonst sehr zeitgenössischen Sound ein?

MADANII: Eine Frage, die mich unter anderem dazu bewegt hat, mit MADANII anzufangen, war: Wieso können persische Elemente nicht auch Teil eines zeitgenössischen Sounds sein? Unser Vorhaben war von Anfang an, genau diese Elemente als gleichberechtigtes musikalisches Ausdrucksmittel zu betrachten, statt als »exotische« Fremdkörper. Popkultur ist dynamisch und kann ganz verschiedene Ausprägungen annehmen. Musikalische Elemente meiner iranischen Herkunft in unsere Musik mit einzubauen, ist für mich absolut kein Widerspruch.

  1. Für die Single »Sober« zum Beispiel arbeitet ihr mit dem Volkslied »Jāne Maryam«. Welche Funktion hat das Stück, das dem Song als Intro vorgestellt ist, für euch?

MADANII: Volkslieder sind die musikalisch prägendste Verbindung, die ich zum Iran habe. »Jāne Maryam« beispielsweise gehört den beliebtesten und bekanntesten dieser Lieder und man wird kaum Iraner*innen finden, die es nicht kennen. Als wir gerade an unserer EP »IILLEGAL ALLIIEN« geschrieben haben, habe ich an einem Abend den Anfang von »Jāne Maryam« vor mir hergesungen. Aus Spielereien mit dieser Aufnahme ist letztendlich der Song »Sober« entstanden. Es hat also nur Sinn ergeben, eben diesen Ausschnitt des Volksliedes, der die Basis für »Sober« gebildet hat, dem Song voran zu stellen.

  1. Eure Videos sind extrem aufwändig gestaltet. Warum spielt die visuelle Komponente für euch eine dermaßen große Rolle?

LLUCID: Wir lieben es, uns kreativ auszuleben und dazu gehört für uns auch immer die visuelle Ebene. Nicht nur bezogen auf die Videos, sondern auch auf Artworks, Fotos und Merch. Sie erlaubt es uns, die Aussage des jeweiligen Songs hervorzuheben, kann dem Song sogar ganz neue Facetten geben und hilft uns unsere Vision sowohl inhaltlich wie visuell an die Hörer*innen weiterzugeben. Videos sind immer extrem aufwändig zu planen und durchzuführen, vor allem als Indie-Artist mit Geldmangel. Durch sie aber lernen wir auch immer wieder neue kreative Köpfe kennen und gerade dieser Austausch macht einfach extrem Bock. Wir wurden schon mehrfach davon überrascht, wie andere Beteiligte unsere Songs teilweise interpretiert haben und was für Ideen dabei herauskamen.




  1. »WVTERWINE« verwendet christliche Ikonografie und spielt mit katholischen Praktiken, die auf den ersten Blick im Kontrast zur Musik stehen. Was war die Idee dahinter?

MADANII: »WVTERWINE« handelt generell von Machtdynamiken, denen sich bereitwillig ergeben wird. Das kann von gesamtgesellschaftlichen Strukturen bis hin zu Beziehungsdynamiken oder eben institutionalisierter Religion alles sein. Da die christliche Ikonografie in der westlichen Welt, in der wir ja primär stattfinden, am geläufigsten ist, haben wir hierin die effektivste Möglichkeit gesehen unsere Aussage visuell aufzugreifen, da auch schon in den Lyrics mit christlicher Symbolik gespielt wird. Das bildet allerdings nur eines von mehreren Elementen, welche die vorherrschenden Machtdynamiken in unserer Gesellschaft visuell darstellen sollten. Auch das damit zusammenhängende Patriarchat und unsere Abhängigkeit von Technologie wurden im Video umgesetzt.

  1. Der Titel euer Debüt-EP lautet »IILLEGAL ALLIIEN« und kann auf mehrere Arten verstanden werden. Welche Themen werden auf den Songs verhandelt?

LLUCID: Uns war bewusst, dass der Titel auf mehrere Arten verstanden werden kann und das soll er auch. Jede*r kennt Situationen, in denen er*sie sich nicht zugehörig fühlt und diese können ganz unterschiedlich aussehen. In den Songs geht es sowohl um soziale als auch um persönliche. Während »WVTERWINE« gesamtgesellschaftliche Problematiken aufgreift, geht es in unserem Song »Sober« um das Gefühl, sich selbst in dem zu verlieren, was man sich aufbürdet, sich zu überarbeiten und die Kontrolle zu verlieren.

MADANII: Gleichzeitig findet sich meine ganz konkrete Erfahrung als Mensch mit Migrationshintergrund in Deutschland aufzuwachsen sowohl inhaltlich als auch musikalisch auf der EP wieder. Die iranischen Elemente, wie um Beispiel mein Gesang auf Farsi auf dreien der sieben Tracks, können zusätzlich dazu führen dass die EP als Ganzes als »IILLEGAL ALLIIEN«, also als fremdartig und vielleicht sogar unerwünscht gewertet wird und somit als Spiegel unserer Normvorstellungen in der etwa Musikwirtschaft dient.

  1. Was können wir dieses Jahr von eurem Beitrag zu Pop-Kultur in diesem Jahr erwarten?

LLUCID: Auf jeden Fall neue Songs! Wir arbeiten gerade an unserer zweiten EP, die im September erscheinen soll und freuen uns schon darauf einige neue Stücke bei Pop-Kultur zu präsentieren.

  1. Was wünscht ihr euch für die Zukunft dieser Welt?

LLUCID: Einen bewussteren Umgang mit dieser Welt und allem, was darauf so lebt.

10 Fragen mit… SADO OPERA

SADO OPERA (Foto: Anastasia Shamray)

Mit unserer Interview-Serie »10 Fragen mit…« möchten wir euch eine Reihe von Acts aus dem diesjährigen Programm von Pop-Kultur vorstellen, die unbedingt einen Platz in euren Playlists und Herzen verdient haben. Den Anfang macht die Berliner Band SADO OPERA.

  1. Wenn ihr die Philosophie hinter SADO OPERA in nur einem Satz zusammenfassen müsstet, was würdet ihr sagen?

Eine Musikjournalistin hat es einmal so ausgedrückt: »für SADO OPERA kann – und muss! – ernster politischer Aktivismus mit ernsthaftem Spaß koexistieren«. Das können wir nur unterschreiben!

  1. Die Kernmitglieder von SADO OPERA sind der Colonel und Katya, ursprünglich kommt ihr aus St. Petersburg. Wann und wie wurde die Band gegründet?

Wir waren schon lange an zahlreichen Musik- und Kunstprojekten in St. Peterburg beteiligt, bevor wir uns dazu entschlossen, ein paar gleichgesinnte Menschen zu versammeln und genau das an den Start zu bringen, was uns in der Stadt und vielleicht Russland im Allgemeinen fehlte. Auf unsere erste Tour gingen wir vor zehn Jahren. Stellt euch Russland im Jahr 2010 und uns auf der Bühne vor – eine Punkband mit Make-Up, Strumpfhosen, Miniröcken und manchmal sogar nackt! Es war eine Kombination aus Live-Show und Kabarett mit vielen bunten Nummern, die mit Songs zusammengebracht wurden, die sich über Homophobie, Militarismus und Misogynie lustig machten. Drag Queens mit Gitarren, Synthesizer, eine Drummerin im Bikini, die schnelle Rhythmen trommelte und manchmal Dildos als Drumsticks benutzt. Das muss unser russischer Queercore gewesen sein. Im Underground waren wir erfolgreich und spielten mehr und mehr in St. Petersburg, Moskau und anderen russischen Städten. Wo wir herkommen, ist Akzeptanz nicht Teil unserer Realität. Jede*r kann in jedem Moment von der Polizei aufgehalten und ausgeraubt werden. Und leider wird selbst Schulkindern erzählt, dass es sich bei Queerness um eine Krankheit handle. Der Hintergrund und die Atmosphäre waren dementsprechend intensiv. Das Publikum nahm uns aber in der Regel gut auf. Viele waren bei unseren Shows total aufgedreht, weil sie eine kollektive Realitätsflucht anboten.

  1. Ihr seid seit Jahren in der Berliner Szene aktiv. Was hat euch in die Bundeshauptstadt gezogen?

Berlin war schon immer ein Traum für uns. Wir waren immer gerne zu Besuch und konnten es jedes Mal nicht abwarten, wieder dorthin zurückzukehren. Und dann spielten wir im Jahr 2011 unseren ersten Gig im berüchtigten Club Salon zur Wilden Renate. Das war definitiv ein gegenseitiger »Liebe auf den ersten Blick«-Moment, der sich zu einer wilden Affäre mauserte, als wir wieder und wieder dorthin eingeladen wurden. Als wir mehr und mehr in Berlin spielten, erlaubte uns das, Tourneen durch Europa um unsere Aufenthalte herum zu organisieren. So kam es, dass wir nach und nach immer mehr Zeit auf dieser Zeit der Grenze verbrachten. Wir fingen außerdem an, mit anderen Berliner Acts gemeinsam Musik zu machen.  Da wir soviel in der Stadt zu tun hatten, zogen wir im Jahr 2014 herüber. Berlin hat sich immer schon wie ein Zuhause angefühlt. »This must be the place«, wie es bei den Talking Heads heißt.

  1. SADO OPERA ist die Resident-Hausband des Salons zur Wilden Renate. Was genau beinhaltet das?

Das Aufeinandertreffen mit der Wilden Renate ist ehrlich gesagt eine der besten Sachen, die uns je zugestoßen ist. Persönlich ebenso wie professionell. Wir selbst, genauso wie unsere Show, entwickelten uns parallel zu den Transformationen, die der Club durchlief. Wir haben in den vergangenen Jahre eine Menge miteinander ausprobiert. Als der Konzertraum des Clubs zu einem großen Techno-Floor umgebaut wurde, konzentrierten wir uns auf die Kuration einer der anderen Floors – den Absinthe Room. Der Colonel schmeißt dort zwei Mal im Monat seine Love-Radio-Shows und Katya ist bei besonderen Anlässen die Gastgeberin des Floors, beispielsweise am Club-Geburtstag oder zu Neujahr, wenn die Party Tage (und Nächte) andauert. Wir bemühen uns auch, queere Künstler*innen aus Russland dorthin einzuladen. Wir glauben, dass der Brückenschlag von der russischen Community hin zur internationalen Szene sehr wichtig ist. Katya ist hauptsächlich dafür verantwortlich, das ist ihr kink! Und natürlich danken wir der Wilden Renate für ihre Unterstützung.

  1. Eure Live-Auftritte stellen offensichtlich die größte Säule des SADO-OPERA-Universums dar. Was ist das Konzept hinter euren extravaganten Live-Shows?

Wir liiiiieben es einfach, auf Tour zu gehen und live zu spielen. Das ist wahrscheinlich unsere liebste künstlerische Praxis – auf der Bühne zu stehen und diese Momente mit den Menschen zu teilen. Und es ist uns damit sehr ernst. Abgesehen von Konzertvenues und Popfestivals spielen wir auch in vielen Techno-Clubs und auf großen Events für elektronische Musik. Unsere Musik ist eine Mischung aus Disco, House, Funk und Electro. Und wir reden viel von Inklusion, Freiheit, Sichtbarkeit und Sexualität. Was einer Definition wohl am nächsten käme ist, wenn wir es als fluid bezeichnen. Ein Techno-Wunderland und Disco-Märchen. Wir sind eine queere Band, die in Make-Up und Kostümen auftritt. Die visuelle Komponente ist für uns also genauso wichtig wie die Musikproduktion.




  1. Ihr standet bekanntermaßen mal mit Conan O’Brien auf der Bühne, als der in Berlin ein Feature über die Stadt drehte. Mal ehrlich: Wie groß sind seine Chancen, eines Tages ein Vollzeitmitglied von SADO OPERA zu werden?

Na ja, jede*r ist dazu eingeladen, ein potenzielles »Vollzeit-« oder »One-Night-Stand-«Mitglied der Show zu werden. Wir lieben es, mit anderen zusammenzuarbeiten und sind immer offen für Neues. Falls ihr, die ihr das lest, jetzt den Drang verspürt – schreibt uns einfach! Conan O’Brien zu treffen war tatsächlich eine interessante Erfahrung. Die Einladung, in seiner Show aufzutreten, war für uns sehr aufregend. Er ist sehr berühmt, für uns aber war es wichtiger, dass er eine liebenswerte Person war. Mit ihm zu spielen, hat Spaß gemacht, und mit ihm zu reden genauso. Wir überraschten ihn mit unserer Sexualität und er uns, indem er uns auf der Bühne begleitete und sich voll in ein SADO-OPERA-Mitglied verwandelte. Als Conan und der Colonel unseren Song »Kissing The Gay Guy« vor ausverkaufter Hütte und den großen amerikanischen Kameras sangen, kamen sie sich sehr, sehr nahe. Seitdem sind seine Chancen groß.

  1. Spaß beiseite: Die COVID-19-Pandemie machte es für Pop-Kultur notwendig, sich neu zu entwerfen. Euer Beitrag wird nun auch anders als zuvor geplant. Könnt ihr uns schon erzählen, was wir davon zu erwarten haben?

Was auch immer wir an dieser Stelle darüber sagen könnten, wie uns die Pandemie in allen möglichen persönlichen und beruflichen Arten und Weisen beeinträchtigt hat, würde trivial klingen. Uns ist klar, dass wir alle in einem Boot sitzen. Es handelt sich definitiv um eine herausfordernde Erfahrung und der erste Teil der Reise war für einige der Bandmitglieder sehr emotional und dramatisch, da sie eine ziemlich harte Zeit durchliefen. Die anderen sublimierten es im Studio und steckten die ganze Energie von Verzweiflung und Hoffnung in unsere Synthies und Maschinen, um neues Material aufzunehmen. Doch allen aus der SADO-Familie fällt es schwer, nicht live für die Menschen spielen zu können. Wir lieben es zu touren und vermissen es ständig, auf der Bühne zu stehen. Andererseits, um es positiv zu wenden: Wir versuchen über all das als kreative Herausforderung für uns Künstler*innen nachzudenken, herauszufinden, wie wir denselben (oder doch einen ganz anderen?) Vibe und die Energie zwischenmenschlicher Verbindungen aufkommen lassen können, während wir physisch voneinander getrennt sind und nur der Screen uns verbindet.  Was, wenn der Bildschirm bislang von uns Live-Performer*innen unerforschte und vernachlässigte Potenziale birgt? Und was, wenn das Publikum dazu eingeladen wird, mit uns auf die Bühne zu treten und einen genaueren Blick in die Welt von SADO OPERA werfen zu können? Was, wenn wir am Ende alle die Schuld gemeinsam schultern, »Share the Blame«?




  1. Wo wir schon dabei sind: Eure letzte Single »Share the Blame« leiht sich ihren Namen vom berüchtigten Club Ficken3000, wo ihr eine monatliche Partyreihe organisiert, doch nennt ihr genauso Dantes »Göttliche Komödie« als eine Referenz. Worum geht es in dem Stück?

»Share the Blame« erzählt die Geschichte von Dantes Disco-Inferno: Vergil hat ein +1 für das Ficken3000 und losgelöste Liebende frönen ihren fleischlichem Verlangen – verdammt seien die ewigen Nachwirkungen! Das Ficken3000 hätte ursprünglich im April seinen 22. Geburtstag gefeiert und hatten eine große Release-Show geplant. Leider wurde natürlich alles abgesagt. In der Zwischenzeit haben wir uns selbst isoliert, die EP angehört und all die Darkroom- und Dancefloor-Momente im Club genauso Revue passieren lassen wie all die echten Geschichten, die das Stück inspiriert haben. Der Sound liegt in der Mitte zwischen elektronischem Disco und House. Und wir haben erneut unsere Lieblings-Synthesizer aus den frühen Achtzigern verwendet, darunter ein Roland Juno-60 und ein Korg Poly-61. Der Song wird begleitet von Remixen von Jarle Bråthen und Johannes Albert, der Resident-DJ in der Wilden Renate ist.

  1. Ihr wart in letzter Zeit allgemein im Studio sehr aktiv. Wie gestaltet sich euer Arbeitsprozess? Sind alle Mitglieder gleichermaßen beteiligt oder teilt das Kernduo das Songwriting unter sich auf?

Um ganz ehrlich zu sein: Was wir auf der Bühne treiben und worüber wir in unseren Songs singen, ist ein Spiegelbild unseres echten Lebens. Oftmals scheint das, was in einer Kultur als schockierend aufgefasst wird, in der anderen die absolute Norm zu sein. Sexuelle Energie und freiheitliche Sexualität sind für uns sehr wichtig. Zumeist sind wir vier oder fünf Menschen auf der Bühne. Es gibt noch andere Menschen, die nicht mit uns dort oben stehen, die wir aber dennoch als vollwertige Mitglieder betrachten. Je mehr wir mit unseren Auftritten die Welt bereisen, desto mehr Geschwister und Liebhaber*innen treffen wir. Das ist unsere SADO-Familie. Was unsere Studioarbeit anbelangt, so werden dafür überwiegend unser Drummer Icky, der Colonel und Katya eingespannt. Dieser flotte Dreier liefert die frisch geborenen Tracks aus. Manchmal stößt noch jemand anderes dazu. Wir bezeichnen das als Kollaboration… So wie mit der französischen Band dOP auf »In The Dark«, dem deutschen Produzenten Noema für den »Bathroom Song« und »Imaginarium« oder dem Norweger Jarle Bråthen und Johannes Albert aus Lichtenberg, die die Remixe für unsere Single »Share The Blame« beigesteuert haben. Es gibt da noch ein paar andere Leute, die lieber anonym bleiben möchten.

  1. Was wünscht ihr euch für die Zukunft dieser Welt?

Was lässt sich der Welt schon anderes wünschen als Liebe, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung! Im Allgemeinen ist eines unserer Hauptziele, Wege zu finden, um uns von Definitionen und Grenzen aller Art freizumachen. Wir wünschen uns für die Gegenwart genauso wie für die Zukunft, dass wir das weiterhin tun und uns zwischendurch daran erinnern können, dass diese Herausforderung auch mit jeder Menge Spiel und Spaß einhergeht. Wir wünschten auch, dass mehr und mehr Menschen die Möglichkeit bekommen, sich zu vereinen und miteinander zu arbeiten. Wir sind offen für Kollaborationen und freuen uns immer darauf, neue Kolleg*innen zu treffen. Manche von ihnen werden zu Familienmitgliedern. Wir glauben fest an die Macht der selbsterwählten Familie. Zum Beispiel haben wir vor nicht allzu langer ein kollaboratives Projekt umgesetzt. Es ist ein Video für unseren Song »Patriarchs«. Das war eine sehr interessante Erfahrung für uns. Wir haben einfach auf Instagram einen Aufruf gestartet und so jede Menge fantastischer Künstler*innen gefunden! Es war sehr spannend für uns, zu sehen, wie Social Media – die ja auch ein Übel sein können – dazu dienen, Menschen mit ganz verschiedenen Hintergründen von überall her zusammenzubringen. Und wie es möglich wird, miteinander in Kontakt zu treten und zusammenzuarbeiten. Ein weiteres tolles Beispiel ist für uns die erste russische Online-Prida-Parade, die vom queeren russischen Magazin O-zine ins Leben gerufen wurde. Es ist eine interessante, mutige und lang erwartete Lösung angesichts der Einschränkungen in Russland, die nicht nur der Pandemie, sondern auch der notorischen »Schwulen-Propaganda«-Gesetze des Landes wegen bestehen. Obwohl die russische Pride in den Straßen verboten ist, findet sich die Community nun online zusammen.